Abels Blut

Dietrich Alsdorf, Kriminalromane

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

Abels Blut

Abels Blut

Dietrich Alsdorf, Kriminalromane

Historischer Kriminalroman: Paperpack

Art.-Nr.: ISBN: 978-3-938097-2

Preis: EUR 11.90

Leseprobe:

„Wer den Alten totschlüge, der begeht keine Sünde. Und wenn da einer wäre, der denselben totschlagen wolle, so wolle er demselben eine blanke Pistole* geben.“ 

Claus über seinen Vater im Januar 1833. 
(* Damals gängige Floskel; entspricht der Summe von 15 Talern.) 

Prolog 

Der 7. August 1816 war ein Mittwoch und der bislang wärmste Tag des Monats. Die Luft flimmerte über dem wilden Kehdinger Moor, als Abel mit ihren drei Jungen auf dem Damm zu den Torfstichen ging. Mühsam schob sie die schwere Karre aus Eichenholz. Abel war seit Monaten krank und schwach. Müde wirkten ihre Schritte. Wie die einer alten Frau. Doch die jüngste Tochter der Böschs, einer der alteingesessenen Familien im Bützflether Moor, war erst dreißig Jahre alt. Abel plagte tiefe Trauer. Zwei ihrer Kinder waren ihr in diesem so unendlich leidvollen Jahr gestorben. Im Januar die erst einen Monat alte Anne. Dann vor neun Tagen ihre dreieinhalbjährige Tochter Stine. Seitdem hatte sie unablässig geweint und ihren Gemahl angefleht, sie tagsüber von der harten Landarbeit zu verschonen. 

Denn nicht nur in ihrer Seele wühlte ein Schmerz, auch ihren Leib schien es zu zerreißen. Eine unerklärliche Krankheit hatte sie befallen und verzehrte einem Feuer gleich ihren einst so makellosen Körper. Aschfahl war ihr schmales Gesicht geworden und ihre großen blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Dunkel umrahmt, wie ein Abbild des Gevatters, den sie bereits auf dem Dachboden des Hofes zu hören glaubte. 

„Bitte lass mich im Haus, die Schmerzen machen mich irre“, bat Abel. 

„Ins Moor mit dir, Weib!“, brüllte ihr angetrauter Ehemann Cord, Bauer auf der Meyer-Wurt. So war es die Art des Vaters, so kannten ihn seine Söhne. Warum er die Mutter so schlecht behandelte, wussten sie nicht. Und sollte einer von ihnen versuchen, der geschundenen Mutter beizustehen, wie es vor einigen Tagen Simon, der Älteste, versucht hatte, riskierte er Prügel. 

Der fast sechsjährige Claus, der dem Streit der Eltern still beigewohnt hatte, wollte es gar nicht erst darauf ankommen lassen. Denn ihn hatte der Vater noch nie geschlagen. Er hatte sich aber auch nie getraut, ihm in den Arm zu fallen, wenn er einmal wieder seine Hand gegen die Mutter erhob. Und er würde es auch nie wagen. Das geschwollene Gesicht Simons war ihm Warnung genug. 

Während seine älteren Brüder Simon und Hinrich mit gesenkten Köpfen barfuss hinter der Mutter gingen, blieb Claus etwas zurück, um am Wegesrand der Mutter zum Trost einen Heidestrauß zu pflücken. Während in einiger Entfernung im Torfstich seine Brüder der Mutter dabei halfen, getrocknete Soden auf die Karre zu stapeln, lag er im hohen Gras und schaute träumend in den blauen Himmel, der von weißen Schäfchenwolken verziert war. Bussarde zogen darunter ihre Kreise über dem weiten Moor und noch höher, fast unsichtbar, sang eine Lerche. 

Claus liebte die Abgeschiedenheit des Moores. Liebte das Summen der Immen und den Gesang der Lerchen. Hier konnte er fernab des Hofes mit dem dort vorherrschenden Unfrieden von seiner Zukunft träumen, die er auf stolzen Schiffen auf den Meeren sah. So wie sein Vater, der über viele Jahre auf Walfängern gedient hatte. Stundenlang konnte Claus den abenteuerlichen Geschichten lauschen, die der Vater zuweilen abends am Herdfeuer erzählte. Und wenn Claus sich gut betrug, durfte er sogar auf dessen Schoß sitzen und sein Vater strich ihm durch das blonde Haar. 

„Wirst einmal Walfänger wie ich und fährst auch zur See“, sagte er dabei und Claus übersah, wie feindselig ihn dabei seine Brüder ansahen. Und ihre Eifersucht immer dann an ihrem jüngsten Bruder ausließen, wenn der Vater einmal nicht in der Nähe war. Das kam in der letzten Zeit immer häufiger vor und Claus fragte sich, was den Vater vom Hof zog und warum er sein Tagwerk vernachlässigte. 

Claus erhob sich, um nach seiner Mutter zu sehen. Er hatte bei seinen Tagträumen die Zeit vergessen. Längst hätte sie an ihm vorbei gehen müssen, um den Torf auf dem Hof abzuladen. Er sprang über den Entwässerungsgraben und erklomm den Damm. Besorgt sah er sich um. Der Damm war leer. Doch was war das? Im Schatten der den Weg säumenden Birken ragte etwas Weißes aus dem Gras. 

Claus lief so schnell es seine nackten Füße erlaubten. Die Mutter lag auf dem Weg, ihre Karre mit den Torfsoden war in den Graben gestürzt. Sie hatte ihre unförmige Sommerhaube verloren, deren leuchtendes Weiß ihm den Weg gewiesen hatte.
„Mudder!“, schrie Claus und beugte sich über den leblosen Körper. Die Mutter stöhnte leise, als er sie zu schütteln begann. 

Abel öffnete langsam die Augen. „Claus, mien Lütten“, hörte er und spürte ihre eiskalte Hand an seinem Unterarm. „Schön, dass du da bist. Bitte lass mich nicht allein. Bleib bei mir, bis der Allmächtige …“ 

Sie ließ sich zurück auf den Boden sinken und rang mühsam nach Luft. Sie hielt beide Hände krampfhaft vor den Bauch. Abel musste große Schmerzen haben. 

„Mudder, ich hole Hilfe!“, rief Claus und die Tränen liefen ihm über die Wangen.

„Nein, … bleib hier“, flüsterte die Mutter. Claus sah mit Bestürzung, wie ihr Gesicht immer schmaler wurde, ihre Wangen seltsam einfielen. Als hätte der körperliche Verfall schon eingesetzt, bevor die Seele aus dem Körper gewichen war. 

Mudder, ich laufe zum Hof, ich hole Vadder!“ 

„Nein, nein – nicht Vadder!“ Abel richtete sich etwas auf und Claus schob ihr den Heidekranz unter den Kopf, den er ihr eigentlich hatte schenken wollen. 

„Ich habe Durst … das Feuer im Leib …“ Sie schluchzte laut auf. 

„Ich hole Wasser“, versprach Claus und stieg hinab in den Moorgraben, der den Damm säumte. Sich mit der einen Hand an einem Birkenzweig haltend, schöpfte er mit der anderen braunes Moorwasser. Doch als er am steilen Hang auf den Weg zurück klettern wollte, verlor er das wenige, das er in seiner Kinderhand zu halten vermochte. 

Weinend kniete er wieder bei der Mutter und strich ihr mit den nassen Fingern über die Lippen. 

„Oh, mein Gott…“, flüsterte sie und ihre Tränen rannen ins Gras. „Die Schmerzen fressen mich auf. Zerreißen mir den Leib.“ 

Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Claus riss sich sein verschwitztes Hemd vom Leib. Behutsam tupfte er der Mutter mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht. 

„Guter Junge …“, flüsterte sie und versuchte zu lächeln, „du bist ein guter Junge, oh mein Gott … und ich muss nun für immer gehen und kann nicht mehr auf dich aufpassen …“ 

Wieder liefen Tränen über ihr Gesicht. Claus spürte ihre Totenhand auf seinem Arm. 

„Ich muss auf dich aufpassen, Claus, hörst du mich? Uns Vadder, er ist nicht gut für dich. Hörst du, Claus? Höre nicht auf ihn. Gehe zu meinen Brüdern. Zu Peter oder Jacob. Sie sollen dich aufnehmen, dich zu einem rechtschaffenen Menschen aufziehen. Das ist mein letzter Wille.“ 

Kraftlos ließ sie sich ins Gras zurückfallen. Mit Entsetzen sah Claus, wie sie ihre von Narben übersäten Hände faltete und ihre Lippen leise Worte formten: 

„O Gott, du Vater aller Gnade und Barmherzigkeit. Erbarme dich über mich, dein armes Geschöpf, um Christi Willen. Lass mich, deine Dienerin, in Frieden fahren …“ 

Claus schrie auf und lief zurück zum Hof. So schnell ihn die Füße trugen.

Aus dem Inhalt:

Die frisch mit einem 30 Jahre älteren Witwer verheiratete Anna ermordet zusammen mit ihrem Stiefsohn Claus in einer Märznacht des Jahres 1833 ihren Mann. Beide werden für diese Tat öffentlich hingerichtet. Eine harte Strafe, die schon damals nicht unumstritten war. In seinem 2007 erschienen Romandebüt Anna aus Blumenthal rekonstruierte der Autor zunächst die Geschichte der Magd Anna und ihrer tragischen Zwangsehe, die 1835 bei Himmelpforten auf dem Schafott endete. Doch viele Fragen in diesem Kriminalfall blieben offen.

Der vorliegende Roman erzählt dem Leser nun die Vorgeschichte des Falls und führt ihn in das damals noch wilde Kehdinger Moor um 1830: Der zwielichtige Moorbauer Cord Meyer sorgt mit seiner Bande auf den einsamen Höfen mit Mord und Diebstahl für Angst und Schrecken. Begleitet wird er häufig von seinem Sohn Claus – bis dieser sich verliebt und aus den Machenschaften seines kriminellen Vaters zu befreien versucht. Doch der nimmt bittere Rache … 

Der Autor:

Dietrich Alsdorf, Jahrgang 1953, arbeitet in der archäologischen Denkmalpflege des Landkreises Stade und schreibt seit Jahren Beiträge und Sachbücher zu regionalgeschichtlichen Themen. Ende 2007 legte er mit Anna aus Blumenthal seinen ersten viel beachteten historischen Kriminalroman vor und wurde dafür mit dem „Golden Hecht“, dem Kulturpreis der Arbeitsgemeinschaft Osteland, ausgezeichnet. Der Autor ist verheiratet und lebt in Stade.

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Brandmarken

Kriminalromane, Wolfgang Röhl

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

Brandmarken

Brandmarken

Kriminalromane, Wolfgang Röhl

Kriminalroman: 185 Seiten

Art.-Nr.: ISBN: 978-3-938097-3

Preis: EUR 11,90

Leseprobe:

Leseprobe aus: Ausgestempelt

EINE ABSICHTSERKLÄRUNG 

Es gibt viele Möglichkeiten, sich umzubringen, aber ich habe immer nur die eine in Betracht gezogen. Den Schuss ins Herz, aufgesetzt. Die richtige Stelle werde ich auf der Brust ertasten. Besser noch, mittels eines Medizinbuchs aufspüren (das Herz, hat mir mal jemand erklärt, liegt weiter zur Brustmitte hin als man denkt). Die Lage eventuell mit einem Filzstift markieren. Meine Waffe wird eine mehr als ausreichende Stärke haben. Also kein Kaliber .22, schon gar nicht 6,35 mm. Selbst eine 7,65er, früher ein gängiges Polizeikaliber, wäre mir zu riskant. Es muss eine sichere Sache sein.

Andererseits werde ich auch keine großkalibrige Waffe benutzen, wie eine .44er Magnum. Warum nicht? Weil ich Waffen mit einem gewaltigen Rückstoß nicht traue. Was, wenn die enorme Druckwelle, die zwischen der Mündung der Waffe und der Brust entsteht, den Lauf verreißt und die Richtung der Kugel in der entscheidenden Nanosekunde ablenkt? Ich wäre dann womöglich nicht tot, nur schwer verwundet. Müsste stundenlang Qualen erleiden, bis es zu Ende wäre. Oder aber ich würde gerettet werden und müsste den Rest des Lebens in einem Rollstuhl verbringen. Wahrscheinlich hätte ich nie wieder den Mut, noch mal abzudrücken. Oder gar keine Möglichkeit mehr, mir eine Waffe zu verschaffen. Ich würde vielleicht noch viele Jahre dahindämmern, eingesperrt in das Gefängnis meines Körpers, lebendig begraben.

Das nicht. Niemals.

Ich werde mir einen Revolver des Kalibers .38 special, was 9 mm entspricht, besorgen. Am besten eine stummelläufige Version, die man gut gegen sich selbst richten kann. Außerdem werde ich eine Patrone mit Vollmantelgeschoss abfeuern. Warum? Weil ein Bleigeschoss sich beim Durchschlagen des Körpers verformt und einen großen, hässlichen Ausschuss verursacht, aus dem literweise Blut strömen kann. Ferner können dadurch Teile von Innereien, Knochensplitter oder Ähnliches in die Umgebung der Stelle spritzen, an der man sich erschießt. So eine Schweinerei möchte ich niemandem zumuten.

Ich gehörte nie zu denen, die Hemingway für seinen Mut bewundern, ein Ende mit seinem Leben zu machen, als er es nicht mehr wie gewohnt führen konnte. Im Gegenteil, ich habe ihn dafür verachtet, von der Methode her gesehen. Sich den Kopf in seinem eigenen Haus wegblasen, während oben die Frau schläft! Und dann noch mit einer Schrotflinte! Ekelhaft.

Die Idee mit dem Brustschuss ist mir als junger Mann gekommen. Ich habe da im Kino „Das Irrlicht“ von Louis Malle gesehen. Ein ziemlich exaltiertes, expressionistisches Werk, heute kaum noch anschaubar. Jedenfalls geht es da um einen Mann aus gutem Haus, der das Leben satt hat, aus vielen Gründen. Er begibt sich noch einmal unter Menschen. Versucht herauszufinden, ob ihn irgendjemand davon abhalten könnte, Schluss zu machen. Findet aber niemand, schiebt am Ende des Films sein Hemd hoch und gibt sich mit einer Armeepistole die Kugel. Den Schuss hört man, glaube ich, im Film gar nicht.

Was mich betrifft, so werde ich solch einen letzten Versuch nicht unternehmen, wenn es so weit ist. 

Fragment eines Schreibens, gefunden bei einer Hausdurchsuchung. Kein Datum, keine Unterschrift, nicht adressiert. 

Kapitel 1

Als ich den Feuerschein bemerkte, war es wahrscheinlich schon zu spät. Zu spät für ihn. Die Leichenreste, die sie in einem ausgebrannten Anbau des Stalles fanden, hatten zu einem Mann gehört. Wenigstens das ergaben die forensischen Untersuchungen. Wer er war, wurde nie geklärt. Das Feuer hatte seinen Körper fast völlig verzehrt. In unserer Gegend wurde niemand vermisst. Ein Illegaler, aus Osteuropa vielleicht? 

Mir hat man keine Vorwürfe gemacht. Natürlich nicht. Ich hatte alles versucht, was in meiner Macht stand. Viel war es nicht, zugegeben. Aber verdammt nochmal, an diesem Abend kam auch wirklich alles zusammen, was nicht hätte zusammenkommen dürfen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, wie man so sagt. Jedenfalls nahmen die Ermittler das anfangs an. 
Ich weiß noch, es war warm. Juli. Es roch intensiv nach Heu, ich erinnere mich genau daran. Die beiden letzten Wochen hatte es nicht einen Tropfen geregnet, ein kleines Wunder im Nassen Dreieck, wie sie die manchmal regelrecht abgesoffene Region hier oben nennen. Die Bauern hatten gemäht und gewendet. Demnächst würden sie das Heu einbringen. Ja, es roch köstlich. Es roch nach Kindheit. Ich bin auf dem Land aufgewachsen.

Ich ging zum Geräteschuppen und zog die Flügeltüren auf. Da stand sie, zwischen Rasenmähern, Sägen, Harken, Rechen, Sprühdruckbehältern und anderem Zeug, das man braucht, um der Natur Schranken zu setzen. Sie ist ja mitnichten ein gütiges Mütterlein, die Natur. Das glauben nur harmlose Gemüter, die vorzugsweise in der Stadt nisten. Eine aggressive Domina ist sie, unsere Natur! Man muss ihr unentwegt die scharfe Kante zeigen, sonst überwuchert sie einen.

Meine Maschine blitzte im Schein der staubigen Schuppenlaterne, als käme sie geradewegs aus der Fabrik. Die Yamaha 500 SR ist ein moderner Klassiker, wie es in Motorradzeitschriften heißt. Sie ähnelt ein wenig den englischen Maschinen der Nachkriegszeit, wurde in Japan ab den 1970ern bis zu den frühen 1990ern fast unverändert gebaut. Sie enthält viele hübsche Chromteile, aber keinen Elektrostarter. Das schützt sie bis zu einem gewissen Grad vor Dieben. Wer kann heutzutage noch ein Motorrad antreten? 
Kenner nennen die SR einen Eintopf, weil sie mit nur einem Zylinder auskommt. Mit der SR fuhr ich meistens Kurzstrecken, zum Brötchenholen ins Dorf oder so. Ich hatte mir das Exemplar vor Jahren zugelegt. Eine unglaublich gepflegte Okkasion aus der Hand eines Kollegen, der sich zu alt für ein Zweirad fühlte. 

Dass mich das stolze Stück auf die Spur von Verbrechen bringen sollte, von ziemlich bizarren Verbrechen sogar, das stand nicht in ihren Papieren.
Die Fahrt längs des kurvenreichen Deiches war ein Genuss. Die Dämmerung hatte eingesetzt, würde sich aber lange hinziehen. Hochsommer. And the livin’ is easy.
Als ich von der Deichstraße abbog und durch Maiswüsten und Weizenfelder in Richtung Badesee fuhr, meinte ich plötzlich, noch einen anderen Geruch zu schnuppern. Man riecht ja viel mehr auf einem Zweirad als im Blechkäfig eines Autos. Man spürt auch intensiv das Auf und Ab der Temperaturen – Wärmewellen aus Weizenfeldern, kühle Brisen, wenn man ein Waldstück durchfährt.

Was ich jetzt in der Nase hatte, war Brandgeruch.

Sonderbar. In weitem Umkreis gab es kein Dorf, keine Siedlung, keine Gehöfte, nicht mal Einzelhäuser. Ich zog die Maschine in eine Linkskurve. An deren Ende führte ein Feldweg ab zu einer langgestreckten Stallung, an deren Vorderfront ein hohes Futtersilo stand. Ich bremste und schaute zu der Stallung hinüber. Kein Fahrzeug stand davor.
Der Brandgeruch war jetzt intensiver zu spüren.

Und dann sah ich es. Da war ein Flackern im hinteren Teil der Stallung. Das Flackern schien aus den Lichtluken auf, die im flachen Dach eingelassen waren. Ich fuhr zum Stall, so schnell es der Feldweg zuließ. Am Stall roch es penetrant nach Hühnerscheiße. Aha. Eine Geflügelfarm, wie Bauern ihre Massentierhaltungsbunker verniedlichten. Oder ein Hühner-KZ, wie gewisse Tierschützer den Holocaust zu verniedlichen pflegten.
Ich spähte durch ein halbblindes kleines Fenster in den Stall. Er war leer. Offenbar war ein Schichtwechsel angesagt. Der alte Tierbestand war zur Schlachtung fortgeschafft worden, die neue Ladung noch nicht da.

Der Feuerschein wurde stärker. Ich gab die 112 in mein Mobiltelefon ein und bemerkte gleichzeitig die Anzeige am oberen linken Rand. „Kein Netz“.
Unfassbar! Man schrieb das Jahr 30 nach der Wiedervereinigung, in dem sich die erste Landung eines Menschen auf dem Mond zum 51. Mal jährte. Aber im Nassen Dreieck gab es immer noch Flecken, die nicht von Mobilfunknetzen abgedeckt waren. Was selbst in den Sümpfen des polnischen Naturparks Bialowieza seit Jahrzehnten Standard war – eine stabile, kristallklare Verbindung mit der Welt da draußen –, hier, im Norden der wichtigsten Industrienation Europas, hatten sie es nicht hingekriegt.
Ich kickte das Motorrad an, als gelte der Tritt einem Vertreter von Vodafone oder Telekom und gab Gas. Ab und zu warf ich einen Blick auf das Telefondisplay. Nach etwa fünf Kilometern erschienen zwei Punkte auf der Anzeige. Schwacher Netzzugang. 

Ich hielt an und drückte die Wahlwiederholung. 112. Es klingelte acht Mal, bis sich jemand meldete.
Auch sehr merkwürdig. Normalerweise wurde bei der Notrufnummer sofort abgehoben. Eine Stimme meldete sich inmitten einer Geräuschkulisse. Ich musste schreien, um mich verständlich zu machen. Die Lage des Stalles beschrieb ich, so gut es ging. Welche Nummer die Straße hatte, an welcher der Stall lag? Woher zum Henker sollte ich das wissen? 
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis der erste Feuerwehrwagen anrückte. Da war von dem Gebäude nichts mehr zu retten. Und der Mann hinten im Anbau, auf dessen Existenz nichts hingewiesen hatte? War zu diesem Zeitpunkt vermutlich längst an den Rauchgasen erstickt.

Später wurde klar, warum es solange gedauert hatte. Die nächstgelegene Feuerwehr feierte an diesem Abend, es war ein Samstag, ihren traditionellen Ball. Die Truppe, die sie vertrat, kam von ziemlich weit her. Sie hatte sich zweimal verfahren. 

Wie gesagt. Eine Verkettung unglücklicher Umstände.

Aus dem Inhalt:

Deutschland 2020. Eine Terrororganisation, die für Tierrechte über Menschenleichen geht, hat die Republik in den Ausnahmezustand gebombt. Die Stimmung schwankt zwischen Angst und Hysterie. Durch einen Zufall kommt der Redenschreiber Max Michelsen einer Gruppe auf die Spur, die sich nachts auf dem Öko-Hof einen Philanthropen trifft.

Sind es Gegner der umstrittenen Flussvertiefung, wie sie behaupten? Oder Kader der mörderischen „Animal Liberation Front“, nach denen überall im Land gefahndet wird? Ein unscharfes Foto, das Michelsen durch ein Fenster knipst, bringt ihn in höchste Gefahr. Was an dem Bild ist so wichtig? Als er die Wahrheit begreift, scheint es schon zu spät zu sein. Zu spät, um den Tod von vierhundert Menschen noch zu verhindern …

Wolfgang Röhl greift in diesem Krimi – in Zeiten, in den Veganer und andere, die jedweden Verzehr tierischer Produkte rigoros ablehnen – den Trend zum radikalen Tierschutz auf, der hier sogar im Terrorismus endet. Röhl wagt sich damit an ein Thema, das bisher eher mit großem Verständnis für die sogenannte Tierrechtsbewegung diskutiert wird.

Wie in seinen anderen Krimis auch zeichnet Röhl mit Beobachtungsschärfe und ironischem Unterton skurrile Menschen – vom erfolgreichen Bio-Unternehmer, der mit seinem Image des ökologischen Gutmenschen Millionen scheffelt, bis zum semiprofessionellen Daueraktivisten, der, zurückgezogen in die norddeutsche Provinz, gegen beinahe alles kämpft, was sich um ihn herum tut – auch gegen Massentierhaltung, versteht sich.

Der Autor

Wolfgang Röhl, Jahrgang 1947, veröffentlicht nun nach Im Norden stürmische Winde, Inselkoller und Straßenkampf beim MCE Verlag seinen vierten Krimi, in dem diesmal der Redenschreiber Max Michelsen die Hauptrolle spielt. Röhl ist Journalist. In Stade geboren und aufgewachsen, arbeitete er bis zu seiner Pensionierung 2013 als Reporter und Autor für das Hamburger Magazin Stern. Röhl lebt in Hamburg und in seinem Reetdach-Bauernhaus im Nassen Dreieck zwischen Elbe und Oste und arbeitet als freier Publizist und Krimiautor.

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Die letzte Lieferung

Kriminalromane, Michael Romahn

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

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Die letzte Lieferung

Kriminalromane, Michael Romahn

Paperback: 313 Seiten

Art.-Nr.:ISBN: 978-3-938097-5

Preis: EUR 11.90

Leseprobe:

1. Kapitel
Dienstag, 5. Dezember

Jana Landau näherte sich mit ihren roten VW Polo dem Waldrand des Rüstjer Forstes. Der anhaltende Regen der letzten Tage hatte den Weg in eine wahre Schlammwüste verwandelt. Sie drosselte die Geschwindigkeit, um den Polo wenigstens einigermaßen in der Spur zu halten. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Warum war sie ihrem Vater gefolgt, anstatt in der Spedition auf seine Rückkehr zu warten? Für einen Moment dachte sie daran umzukehren, doch dann würde sie vermutlich nie erfahren, was ihr Vater an diesem verlassenen Ort zu suchen hatte. Sie spürte die Wut, die in ihr aufloderte, Wut auf ihren Vater, aber vor allem auf sich selbst, dass sie sich in diese bedrohliche Lage gebracht hatte. Sie biss sich auf die Lippen. Ihr Vater hatte am Tag ihres Wiedersehens geschworen, so einen Scheiß nie wieder zu machen. Er hatte es ihr hoch und heilig versprochen, genauso wie er es ihrer Mutter versprochen hatte, als sie ihn am Anfang seiner Haftstrafe besucht hatte. Mama war nur dieses eine Mal bei ihm gewesen, danach nie wieder! Ihr Blick fiel auf den kleinen Schuh aus dunkelrotem Leder, der an ihrem Rückspiegel baumelte. Er hatte die Größe 18, und es war der erste Schuh, den sie in ihrem Leben getragen hatte. Sie war gerade mal vier Jahre alt gewesen, als ihr Vater zu dreieinhalb Jahren Gefängnis in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel verurteilt wurde. Ihre Mutter hatte danach alle Kontakte zu ihm abgebrochen und hatte alle Bemühungen ihres Vaters, wieder in ihre Nähe zu kommen, gerichtlich verbieten lassen. Erst Jahre später hatte sie von ihrer Mutter erfahren, dass er Drogen und Zigaretten über die tschechische Grenze nach Berlin geschmuggelt hatte. All die Jahre hatte Jana nur den Worten ihrer Mutter geglaubt. Was war ihr auch anderes übrig geblieben? Doch vergessen konnte sie ihren Vater nie und sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ihn zu finden, sobald sie achtzehn war und ihre Mutter nichts mehr dagegen unternehmen konnte. Jana fuhr sich mit den Fingern durch ihr braunes, schulterlanges Haar. Sie war aufgeregt gewesen wie noch nie in ihrem Leben, als sie vor einem halben Jahr vor seiner Tür stand. 14 lange Jahren waren vergangen und dann stand er plötzlich vor ihr: in Jeans, Sweatshirt, grau meliertem Haar und Dreitagebart. Sein unsicheres Lächeln hatte ihr verraten, dass er genauso angespannt war, wie sie selbst. Sie hatten die ganze Nacht geredet, bis die Morgendämmerung einsetzte. Am nächsten Tag hatte er ihr dann den kleinen Schuh in die Hand gedrückt. „Ich habe ihn behütet wie einen Schatz“, hatte er gesagt. „Er war in all den Jahren die einzige Erinnerung an dich.“ 
Es hätte ihr beinahe das Herz zerrissen, als sie den winzigen Schuh in den Händen hielt. Sie drehte ihr Gesicht zum Seitenfenster und starrte in die Dunkelheit. Warum hatte er ihr vorhin in der Spedition nicht die Wahrheit gesagt? Sie hatte ihren Vater dabei überrascht, als er am Abend eine Reihe von Kartons zu seinem Lieferwagen trug. Als sie wissen wollte, was in diesen Kartons sei, hatte er nur den Kopf geschüttelt. „Was ist in den Kartons, Papa? Worauf hast du dich da eingelassen?“ Sie hatte sich ihm provokativ in den Weg gestellt, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, den nächsten Karton einzuladen. „Ich kann es dir nicht sagen, Jana“, hatte er geantwortet. „Ich muss jetzt los. Bitte, lass uns später darüber reden.“
Er hatte den letzten Karton in den Wagen gestellt und wollte sich an ihr vorbei zur Fahrertür drängen. 
„Papa, was verheimlichst du mir? Sag es mir. Bitte.“
„Jana, du musst mir vertrauen. Wenn ich das hier nicht zu Ende bringe, ist alles verloren.“
„Was ist dann verloren?“ 
„Ich muss jetzt wirklich los. Ich bin jetzt schon viel zu spät dran.“ Er hatte sie nicht einmal angesehen, als er ins Auto stieg und einfach davon fuhr.


***

In einem Moment der Unaufmerksamkeit lenkte sie den Wagen zu weit an den Rand des Weges. Sie versuchte noch einmal, Gas zu geben. Doch es war zu spät. Bei dem Versuch, den Wagen wieder freizubekommen, gruben sich die Reifen immer tiefer in den Schlamm. „Verdammter Mist“, stieß sie aus und schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. „Ausgerechnet jetzt!“ 
Jana stellte den Motor ab, stieg aus und lief um das Auto herum. Sie stöhnte auf, als sie sah, dass der rechte Vorderreifen bis zur Hälfte versunken war. Ihr war klar, dass sie den Wagen allein nicht wieder flott bekommen würde. Sie schaute zum Himmel hinauf. Kein Stern war zu sehen. Es war stockfinster, nur ab und zu stahl sich das Mondlicht durch die trägen Wolken.
Ihr Blick wanderte über den Forstweg hinweg zum Wald, der ihr wie ein schwarzes, Furcht einflößendes Loch vorkam. Zögernd ging sie los, vorbei an einem Stapel frisch geschlagener Baumstämme und folgte dem Lauf des Weges, der sich in der Dunkelheit des Waldes verlor. Plötzlich glaubte sie, etwas weiter im Wald einen Lichtschein zu erkennen. Dann flackerte ein zweites Licht auf. Sie hielt inne. Beim Anblick der Lichter lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinab. Was hatte ihr Vater so spät abends hier zu suchen? Jana vernahm ein Knacken, fuhr herum, aber es war niemand zu sehen. Sie klammerte sich an den Gedanken, dass es für die ganze Sache eine logische Erklärung geben musste, obwohl so gut wie alles dagegen sprach. Jana stand unbeweglich da und starrte zum Lichtschein. Sie war kurz davor, in Panik zu verfallen. Wieder hörte sie das Knacken von Ästen. Sie schaute verwirrt in die Dunkelheit und wusste nicht so genau, was sie jetzt tun sollte. Ihr Herz krampfte sich ruckartig zusammen. Bevor sie die dunkle Gestalt hinter sich überhaupt wahrnehmen konnte, schlang er schon seinen Arm um ihren Hals und zog sie ruckartig an sich. Instinktiv versuchte sie, sich loszureißen, doch es war zwecklos. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie hätte es nie so weit kommen lassen dürfen, doch jetzt war es zu spät. „Du hättest nicht herkommen sollen, Süße“, zischte er ihr ins Ohr. „Das war ein großer, ein sehr großer Fehler.“ Der Klang seiner düsteren Stimme trieb sie beinahe in den Wahnsinn. Sie versuchte zu schreien, doch es war sinnlos. Er verstärkte den Druck auf ihren Kehlkopf. „Ich habe euch beobachtet. In der Spedition. Sicher ist sicher, habe ich mir gedacht.“ Sein dreckiges Lachen nahm sie kaum noch wahr. Sie schnappte nach Luft, spürte, wie all ihre Sinne allmählich schwanden. „Ihr habt euch gestritten“, fuhr er fort, während er eine Spritze aus seiner Jacke zog und mit den Zähnen die Kappe von der Nadel zog. „Erzählst du mir, warum?“ Was für ein Irrsinn, schoss es Jana durch den Kopf. Selbst wenn sie bereit dazu wäre, hätte sie ihm nicht antworten können. Ihr Kehlkopf schmerzte so sehr, dass sie glaubte, er würde im nächsten Moment in tausend Stücke zerspringen. „Dann eben nicht“, zischte er ihr ins Ohr. Sein widerlicher Gestank drang ihr in die Nase. Es war alles dabei: alter Schweiß, und ein Gemisch aus Alkohol und kaltem Rauch. „Mir wusste von Anfang an, dass du deinem Vater folgen würdest. Aber das hättest du nicht tun dürfen.“ Wieder stieß er ein widerliches Lachen aus. „Deinem Vater blieb schon damals keine andere Wahl, als mit uns zusammenzuarbeiten und das wird auch dieses Mal nicht anders sein.“ In diesem Moment vernahm sie das Aufheulen eines Motors. Ihr Herz raste, als sie nur wenig später aus den Augenwinkeln zwei helle Lichtkegel im Wald sah. Sie wusste, was jetzt geschehen würde. Sie starrte auf die dünne Nadel, die sich ihrem Körper langsam näherte. „Tut mir Leid, Schätzchen. Aber ich denke, es ist jetzt an der Zeit, zu gehen.“
Sie spürte nur noch den Stich in der Armbeuge, eine eigenartige Wärme, die langsam durch ihre Venen kroch, als hätte man ihr heißes Wasser injiziert. Sie schloss die Augen, als das Gefühl des Fallenlassens ihren Körper durchflutete und alles um sie herum aus ihrem Gehirn verbannte. Jetzt ist es vorbei, endlich vorbei, war ihr letzter Gedanken, bevor ihr das Gift die Sinne raubte.

Kapitel 2 
Mittwoch, 6. Dezember

Oberkommissarin Ilka Hansen warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon kurz nach acht und sie hatte noch nicht einmal geduscht. Sie wählte die Nummer ihres Kollegen Cem Kayaoglu und teilte ihm mit, dass sie zuerst noch einen Termin bei Dr. Seidel hätte und erst danach ins Büro kommen würde. Nach der ausgiebigen Dusche und einem Becher heißem Kaffee in der Hand warf sie einen Blick in den Spiegel. Was sie dort sah, war ganz passabel. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Das tiefe Schwarz vom letzten Friseurbesuch war ein wenig ausgeblichen und der letzte Schnitt hatte auch ein wenig an Form verloren, aber im Großen und Ganzen konnte sie sich durchaus noch sehen lassen. Das eine oder andere überflüssige Kilo, das sie ihrem Urlaub in Vernazza zu verdanken hatte, war auch schon wieder verschwunden. Trotz ihrer 42 Jahre sah sie noch recht attraktiv aus, wenn man mal von den Fältchen in den Augenwinkeln absah. Die letzten Wochen waren für sie nicht einfach gewesen und hatten ihr viel Energie geraubt. Ilka föhnte sich kurz ihre Haare und zog sich an. Ihre Kleiderwahl war noch nie besonders abwechslungsreich. In Jeans, T-Shirt und vielleicht noch einem Pullover darüber, fühlte sie sich am wohlsten. Nur ihre schwarze Lederjacke musste sie angesichts der winterlichen Temperaturen gegen eine warme Daunenjacke tauschen. Sie warf noch einen letzten Blick in den Garderobenspiegel und schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Sie nahm sich vor, an einem der nächsten Abende ihren Haaren eine frische Tönung zu gönnen. 

***

Auf dem Weg nach draußen wäre Ilka beinahe über Sinas Winterstiefel gestolpert, den ihre Tochter unübersehbar direkt vor die Haustür gestellt hatte. Eigentlich musste sie Sina sogar dankbar sein, sonst hätte sie total vergessen, dass heute bereits der 6. Dezember war. Sie wussten beide nicht so genau, wieso sie immer noch am Nikolausmorgen ihre geputzten Schuhe neben die Tür stellten, aber solange Sina noch bei ihr lebte, würden sie dieser Tradition treu bleiben. Ilka steckte eine Tüte saurer Kaubonbons in den Stiefel. Dann legte sie noch John Green dazu, den sie ihr planmäßig erst zum Geburtstag schenken wollte. ‚Das Schicksal ist ein mieser Verräter‘. Sina hatte schon immer einen etwas eigenartigen Geschmack, aber sie liebte nun mal die Bücher dieses Autors. Bevor sie das Haus verließ, stellte sie mit einem Lächeln ihren Schuh daneben und ließ die Tür hinter sich zufallen. Ein eisiger Wind fuhr ihr ins Gesicht. Die Wetterschwankungen der letzten Wochen machten ihr zu schaffen. Der anfangs blaue Himmel hatte sich komplett zugezogen und aus dem leichten Nieselregen war jetzt ein ekelhafter Graupelschauer geworden. Sie zog die Kapuze ihrer Regenjacke über den Kopf und machte sich auf den Weg zur letzten Sitzung mit Dr. Seidel. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich einmal auf die Gespräche mit Dr. Seidel freuen würde. Als ihr Chef Patrick Dannenberg ihr nahegelegt hatte, nach dem letzten Einsatz die Hilfe eines Psychologen anzunehmen, wäre sie ihm beinahe ins Gesicht gesprungen. Doch jetzt spürte sie, dass sie ohne Dr. Seidel niemals dieses Ereignis hätte verarbeiten können. Vier Tage hatte sie auf der Intensivstation verbracht, danach wochenlange Reha über sich ergehen lassen. Das alles lag jetzt hinter ihr. Es war ein Ereignis, das Ilka immer wieder zu verdrängen versuchte und doch gab es immer noch Nächte, in denen sie schweißgebadet aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte. Ihr war bewusst, dass sie eigenmächtig gehandelt und dadurch sich und das Team in Gefahr gebracht hatte. Aber sie musste an jenem Abend eine Entscheidung treffen, als Wolfgang Erdmann mit der Geisel vor die Haustür getreten war, mit der Gewissheit, dass sich im Haus noch die Tochter Maria befand. Niemals würde sie den Augenblick vergessen, als das Mädchen im Nachthemd im Hauseingang erschien war und ihr weißes Stofftier fest an sich gedrückt hatte. Es war der Augenblick, in dem Erdmann für einen Bruchteil einer Sekunde seine Konzentration verloren hatte und Ilka einen gezielten Schuss auf ihn abfeuern konnte. Auf diesen einen Moment hatte sie gewartet. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch einmal die Kraft aufbringen würde, seine Makarow an sich zu nehmen. Ilka mochte nicht daran denken, wie dieser Einsatz hätte enden können. Wenn Erdmanns Kugel sie einen Millimeter weiter links getroffen hätte, wäre sie jetzt tot. Nur einen Millimeter, eine Winzigkeit, dann wäre es vorbei gewesen. 

***

 „Hallo Ilka. Schön, dich zu sehen.“ Dr. Ralf Seidel wartete, bis sie ihm gegenüber Platz genommen hatte. Obwohl er vor kurzem erst seinen einundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte, wirkte er mit seinen kurzen, ergrauten Haaren wesentlich älter. Er trug stets einfarbige Hemden, eine graue Strickjacke und eine randlose Brille. Ilka fragte sich manchmal, warum er überhaupt eine Brille besaß, weil er sie entweder in die Haare geschoben hatte oder danach suchte. „Heute ist unsere letzte Sitzung. Wie fühlst du dich? Bis du erleichtert, dass es vorbei ist?“ Auf Ilkas Bitte hin waren sie schon bei der zweiten Sitzung zum ‚Du‘ übergangen. Ilka warf dem Polizeipsychologen einen skeptischen Blick zu. „Ist das wieder eine von deinen Fangfragen?“
Dr. Seidel lächelte. Er mochte Ilkas Direktheit, die Dinge so anzusprechen, wie sie ihr gerade in den Sinn kamen, auch wenn es manchmal länger als gewöhnlich dauerte, bis er einen Einblick in ihr Inneres bekam. „Nein, ist es nicht. Ich frage dich nur, ob du erleichtert bist, dass es vorbei ist.“
„Na ja, die eine oder andere Sitzung hätte ich wohl noch durchgehalten“, scherzte Ilka. 
Seidel beugte sich vor und sah Ilka direkt in die Augen. 
„Ich hoffe, dass du unsere Gespräche nicht als Zwang angesehen hast, sozusagen als dienstliche Anweisung. Dann hätten wir beide unsere Zeit verschwendet.“ „Ich habe es nie als verschwendete Zeit angesehen“, widersprach Ilka. „Es war am Anfang nur schwer, überhaupt darüber zu sprechen. Aber es war gut, dass ich es gemacht habe. Denn irgendwann frisst einen die Angst auf. Du kannst nicht mehr klar denken und alles, was du tust, stellst du selbst wieder in Frage. Das ist ein ewiger Kreislauf und irgendwie kein normales Leben mehr. Verstehst du, was ich damit sagen will?“ „Sehr gut sogar, Ilka. Das ist eine völlig normale Reaktion, nach dem, was dir widerfahren ist. Glaube mir, selbst der härteste Hund kehrt nach einem Ereignis wie diesem nicht einfach zum normalen Alltag zurück.“ Ilka zog die Stirn kraus. „Ich habe auch nicht erwartet, dass es ‚einfach so‘ geht. Aber ich bin bei der Kripo und, wenn ich den Job nicht professionell ausüben kann, dann kann ich gleich zuhause bleiben.“ Dr. Seidel warf einen kurzen Blick in seine Unterlagen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Ilka schenkte. 
„Du hast beim letzten Mal gesagt, dass du beim nächsten Einsatz alles ausblenden kannst, dass dich nichts in deinem Handeln beeinträchtigen wird. Aber was passiert, wenn es nicht so ist? Wenn du nur einen kurzen Moment zögerst, die richtige Entscheidung zu treffen?“ Ilka zuckte nur mit den Schultern. 
„Stark zu sein“, fuhr Seidel fort, „bedeutet auch, sich eine Schwäche einzugestehen. Wenn du in den Spiegel schaust und die Narbe betrachtest… was geht in dir vor?“ „Es ist ein seltsames Gefühl“, sagte Ilka leise. „Wenn ich die Narbe sehe, muss ich immer daran denken, wie knapp es war. Dann kommen die Erinnerungen wieder, der Moment, in dem es passierte. Es ist nicht so einfach zu erklären.“ Seidel nickte. „Du kannst die Narbe ignorieren, sie mit einem Kleidungsstück überdecken, aber sie ist trotzdem ein Teil von dir. Erst wenn du das akzeptierst, kannst du auch damit umgehen.“ „Das ist nicht so einfach“, gab Ilka zu. 
Seidel richtete sich auf und schaute ihr dabei fest in die Augen. 
„Soll ich ehrlich sein, Ilka?“
„Ja, natürlich.“
„Wir sind auf einem guten Weg, aber er ist noch nicht zu Ende.“
Ilka verstand nicht, worauf er hinaus wollte, doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er fort: „Was empfindest du in diesem Moment, am Ende unseres letzten Gesprächs?“ Ilka kniff die Lippen zusammen. Sicherlich sah Seidel ihr sofort an, dass sie hin-und hergerissen war. Es war sein Beruf, das Verhalten der Menschen zu deuten. „Einerseits empfinde ich ein wenig Wehmut, weil ich die Gespräche mit dir vermissen werde, aber auf der anderen Seite bin ich natürlich auch erleichtert, dass es vorbei ist. Es ist manchmal gar nicht so einfach, die Seele vor einem anderen Menschen offenzulegen. Aber egal, jetzt ist es vorbei.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„Und genau das ist dein Problem, Ilka. Du glaubst, alles im Griff zu haben, aber letztendlich bist du dir nicht sicher. Aber ich weiß, dass du eine starke Frau und eine der besten Kripobeamten in unserem Land bist.“ „Danke für das Kompliment. Aber das war doch nicht alles?“
Er lächelte. „Nein, natürlich nicht. Denn ich sehe auch eine Frau, die Angst hat zu versagen, falsch zu reagieren, wenn sie wieder in eine ähnlich bedrohliche Situation gerät. Wenn ich mich täusche, dann sage es.“ Ilka senkte ihren Blick zu Boden. Sie dachte ein paar Sekunden über seine Worte nach, dann schaute sie wieder zu ihm. 
„Du täuscht dich nicht“, sagte sie leise, „Aber das weißt du ja schon längst.“
Er nickte. „Also möchtest du den Weg bis zum Ende gehen?“ 
„Ja, das möchte ich.“
„Du musst es nicht machen, Ilka.“
„Ich weiß“, erwiderte Ilka ohne zu zögern. „Ich hätte am Anfang nie geglaubt, dass ich das einmal sagen würde, aber die Gespräche mit dir tun mir irgendwie gut. Anders kann ich es nicht beschreiben.“ „Also machen wir weiter?“
„Ja.“
„Dann sehen wir uns nächste Woche um dieselbe Zeit?“
„Abgemacht.“

Aus dem Inhalt:

Eine spurlos verschwundene Frau und ein ausgebrannter Lieferwagen geben der Kripo Rätsel auf. Als die grausam entstellte Leiche Björn Landaus gefunden wird, nimmt der Fall bizarre Formen an. Warum wurde der Mann auf so brutale Weise getötet? Der Fall wird immer mysteriöser, als die junge Journalistin Sophie Degenhardt tot in ihrer Wohnung aufgefunden wird. Sie wurde erstickt. Nichts deutete darauf hin, dass die beiden Fälle etwas miteinander zu tun haben könnten.

Dann geschieht der nächste Mord und wieder wurde das Opfer gefoltert. Als auf Oberkommissarin Ilka Hansen geschossen wird, gerät die Kripo in Aufruhr. War es ein Anschlag oder nur eine Warnung? Doch Ilka denkt nicht daran, aufzugeben und ermittelt weiter, bis der Fall eine überraschende Wendung nimmt, mit der niemand rechnen konnte… Ilka Hansen und das Stader Kripoteam mit dem türkischstämmige Kollegen Cem Kayaoglu ermitteln zum vierten Mal in der MCE-Krimireihe, die überwiegend in Stade und Harsefeld spielt.

Der Autor

Michael Romahn wurde 1959 in Stade geboren und lebt seit einigen Jahren mit seiner Familie in Harsefeld im Landkreis Stade. Er arbeitet als technischer Redakteur im Flugzeugbau, seine Liebe jedoch gilt der Schriftstellerei.

Mit dem vorliegenden Band erscheint sein erster Kriminalroman, der in seiner Heimat spielt. Zur Zeit arbeitet Romahn am zweiten Fall der Oberkommissarin Ilka Hansen.

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Milchfieber

Kriminalromane, Thomas B. Morgenstern

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

Milchfieber

Milchfieber

Kriminalromane, Thomas B. Morgenstern

Kriminalroman: Paperback, 270 Seiten

Art.-Nr.: 978-3-938097-26-7

Preis: EUR 11.90

Leseprobe:

Eduard Rolke war als Kind schon so unbeliebt, wie er es bis zu seinem Tod immer bleiben sollte. Jahrelang hatte Rolke kein Interesse, die Milchleistung seiner Tiere messen zu lassen, und jeder Milchkontrolleur war froh darüber gewesen. Irgendwann jedoch besann er sich anders, und so hatte Allmers ihn seit seinem ersten Arbeitstag als Milchkontrolleur in seinem Bezirk. Allmers ärgerte sich jedes Mal, wenn er zu ihm fahren musste, und versuchte ansonsten jedes weitere Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden.

Die meisten Bauern freuten sich auf den monatlichen Besuch des Milchkontrolleurs. Oft wurde der neueste Dorftratsch ausgetauscht. Die Arbeit wurde fast zur Nebensache. Bei Rolke hingegen konnte man die Luft schneiden, fand Allmers und die Hoffnung auf die sonst übliche freundliche Mithilfe war vergebens. Rolke sah meistens stumm zu, wenn sich der Milchkontrolleur durch die eng stehenden Kühe quetschen musste, um das volle gegen das leere Proberöhrchen auszutauschen. Fragen nach dem Namen der Kuh beantwortete er meistens nicht, oft schwieg Rolke während der gesamten Melkzeit oder er beantwortete Allmers Fragen so, wie man es von ihm gewohnt war: herrisch, anmaßend und hochmütig. Obwohl er zwölf, manchmal dreizehn Kühe im Stall stehen hatte, molk er sie mit nur einem Melkzeug. Die Kontrolle zog sich zu Allmers Ärger dadurch immer endlos hin.

„Wie heißt die Kuh?“, fragte Allmers, als er zur Kontrolle kam. Allmers war selten in Zeitnot, bei diesem Betrieb allerdings sah er jedes Mal zu, dass er so schnell wie möglich wieder verschwand. 
Heute hatte er es wie immer bei Rolke eilig und keine Lust, zwei Stunden schweigend im Stall zu stehen. Nachdem er das Proberöhrchen ausgetauscht hatte, bemerkte er ärgerlich, dass er vergessen hatte, die Ohrmarkennummer des Tieres abzulesen. Die Frage nach dem Namen der Kuh schien ihm unverfänglich.

Aber Rolke konterte sofort und nahm Allmers alle Lust, weiter zu fragen: „Den Namen habe ich dir doch letztes Mal schon gesagt“, antwortete er mit seiner gedehnten, hohen Stimme. „Kannst du dir den nicht merken?“
Allmers wusste, dass er sich bei Rolke keine Blöße geben durfte. Zu schnell hatte man ein Gerichtsverfahren wegen Beleidigung oder ähnlichem am Hals. So quetschte er sich schweigend ein zweites Mal durch die eng stehenden Kühe, las die Ohrmarkennummer ab und suchte auf seiner Liste das dazupassende Tier.

Immer wieder sah er auf die Uhr, aber in diesem Betrieb verging die Zeit nur schleppend. Rolke saß auf seinem Melkschemel neben der Kuh, die er gerade molk, hielt das Melkzeug mit einer Hand und mehr als einmal schlief er bei der abendlichen Kontrolle ein. Allmers warf dann meistens eine Mistgabel oder eine Schaufel um und freute sich, wenn der Bauer von dem Lärm erschrak und aufwachte.

Als er endlich seine Sachen eingepackt hatte, seufzte er. Es war erst die Hälfte dieser sich Monat für Monat wiederholenden Qual vorbei. Am nächsten Morgen standen die nächsten beiden Stunden Milchkontrolle an.
Er beschloss, auf dem Heimweg einen kleinen Umweg zu machen und bei Wienberg einzukehren. 

Wienberg war eine altertümliche Kneipe, in der es nichts zu essen gab und die Getränkekarte keine große Auswahl bot. Der Wirt hätte sich allerdings auch nicht erinnern können, wann ein Gast das letzte Mal die Getränkekarte zu sehen gewünscht hätte. In dieser Kneipe gab es Bier und Korn, für die Frauen Apfelkorn oder ein paar süße Liköre. Irgendwann verirrte sich ein Durchreisender, der von der Elbefähre kam, zu Wienberg und meinte, er würde gerne die Weinkarte sehen, welchen Wein der Wirt denn empfehlen könne?
„Weißen oder roten“, war die Antwort. 

Nach zwei Stunden auf den ungepolsterten Stühlen war Allmers klar, dass er jetzt besser sehr langsam nach Hause fahren musste. Dass es spät geworden war, war Allmers egal. Zu Hause erwartete ihn niemand. Seit Susannes Weggang nach Berlin hatte er keine Frau kennen gelernt, mit der er es hätte aushalten wollen.

Allmers setzte sich ins Auto und versuchte einen völlig normalen Eindruck zu machen. Die Straße, an der Wienbergs Kneipe lag, war stark befahren und die Gefahr, dass ein Streifenwagen vorbeikam, war groß. Nach mehreren Versuchen passte der Schlüssel ins Zündschloss, er startete das Auto und fuhr los.

Der neue Kreisel, der am Eingang des Dorfes erbaut worden war, war in der Bevölkerung sehr umstritten. Überall im Landkreis schossen diese Bauwerke aus dem Boden, meist dekoriert mit irgendwelchem maritim wirkenden Altmetall. In Stade gab es einen Kreisel, bei dem die Stadt sich billig verschrottete Bojen besorgt und sie schreiend bunt angemalt auf der Mitte des Kreisels entsorgt hatte. Ob das den Tatbestand der unerlaubten Lagerung von Abfall darstelle, hatte sich Allmers gefragt und beschlossen, dieses juristische Problem gelegentlich mit seinem Bruder zu besprechen.

Aus dem Inhalt:

Als Milchkontrolleur Hans-Georg Allmers den Geburtstag des Bauern Horst Winkler im Feuerwehrhaus feiert, ahnt er noch nicht, welch unheilvolle Entwicklung an diesem Abend ihren Anfang nehmen wird. Worauf hat es die junge Polin Lissy in Wahrheit abgesehen, als sie wenig später zu Winkler auf den Hof zieht? Und welche Rolle spielt ihr Cousin Alex? Allmers Gespür für verworrene Fälle soll schon bald auf eine harte Probe gestellt werden … 

Der aus Morgenstern beiden Krimis „Milchkontrolleur“ (2005) und „Aufhörer“ (2008) bekannte Milchkontrolleur Allmers wird nämlich wieder in die Ermittlungen verstrickt. Mit seinem Bruder, der als Staatsanwalt in Stade arbeitet, kommt es wieder zu unerfreulichen Kontroversen. Am Ende sorgt aber Allmers wieder für die Aufklärung der Morde…

Wie schon in den beiden anderen Krimis mit dem bäuerlichen Hobby-Detektiv entführt der Autor in die Welt eines kleinen norddeutschen Bauerndorfes, erzählt ebenso humorvolle wie ernste Geschichten vom Leben auf dem Lande und von so manch skurrilem Dorfbewohner. Vor allem aber bietet er wieder eine verzwickte und psychologisch ausgefeilte Kriminalgeschichte, die Unterhaltung und Spannung verspricht.

Der Autor: 

Thomas B. Morgenstern, Jahrgang 1952,  bewirtschaftet mit seiner Familie einen biologisch-dynamischen Bauernhof in der Elbmarsch bei Stade. Der Diplom-Biologe, der auch einige Semester Germanistik und Theaterwissenschaften studiert hat, ist seit Jahren als Schriftsteller tätig. Im MCE-Verlag debütierte Morgenstern im Herbst 2005 mit seinem Krimi Der Milchkontrolleur, der zu einem Überraschungserfolg wurde.

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Der Aufhörer

Kriminalromane, Thomas B. Morgenstern

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

Der Aufhörer

Der Aufhörer

Kriminalromane, Thomas B. Morgenstern

Kriminalroman: Paperback, 270 Seiten

Art.-Nr.: 978-3-938097-1

Preis: EUR 11.90

Leseprobe:

Eduard Rolke war als Kind schon so unbeliebt, wie er es bis zu seinem Tod immer bleiben sollte. Jahrelang hatte Rolke kein Interesse, die Milchleistung seiner Tiere messen zu lassen, und jeder Milchkontrolleur war froh darüber gewesen. Irgendwann jedoch besann er sich anders, und so hatte Allmers ihn seit seinem ersten Arbeitstag als Milchkontrolleur in seinem Bezirk. Allmers ärgerte sich jedes Mal, wenn er zu ihm fahren musste, und versuchte ansonsten jedes weitere Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden.

Die meisten Bauern freuten sich auf den monatlichen Besuch des Milchkontrolleurs. Oft wurde der neueste Dorftratsch ausgetauscht. Die Arbeit wurde fast zur Nebensache. Bei Rolke hingegen konnte man die Luft schneiden, fand Allmers und die Hoffnung auf die sonst übliche freundliche Mithilfe war vergebens. Rolke sah meistens stumm zu, wenn sich der Milchkontrolleur durch die eng stehenden Kühe quetschen musste, um das volle gegen das leere Proberöhrchen auszutauschen. Fragen nach dem Namen der Kuh beantwortete er meistens nicht, oft schwieg Rolke während der gesamten Melkzeit oder er beantwortete Allmers Fragen so, wie man es von ihm gewohnt war: herrisch, anmaßend und hochmütig. Obwohl er zwölf, manchmal dreizehn Kühe im Stall stehen hatte, molk er sie mit nur einem Melkzeug. Die Kontrolle zog sich zu Allmers Ärger dadurch immer endlos hin.

„Wie heißt die Kuh?“, fragte Allmers, als er zur Kontrolle kam. Allmers war selten in Zeitnot, bei diesem Betrieb allerdings sah er jedes Mal zu, dass er so schnell wie möglich wieder verschwand. 
Heute hatte er es wie immer bei Rolke eilig und keine Lust, zwei Stunden schweigend im Stall zu stehen. Nachdem er das Proberöhrchen ausgetauscht hatte, bemerkte er ärgerlich, dass er vergessen hatte, die Ohrmarkennummer des Tieres abzulesen. Die Frage nach dem Namen der Kuh schien ihm unverfänglich.

Aber Rolke konterte sofort und nahm Allmers alle Lust, weiter zu fragen: „Den Namen habe ich dir doch letztes Mal schon gesagt“, antwortete er mit seiner gedehnten, hohen Stimme. „Kannst du dir den nicht merken?“
Allmers wusste, dass er sich bei Rolke keine Blöße geben durfte. Zu schnell hatte man ein Gerichtsverfahren wegen Beleidigung oder ähnlichem am Hals. So quetschte er sich schweigend ein zweites Mal durch die eng stehenden Kühe, las die Ohrmarkennummer ab und suchte auf seiner Liste das dazupassende Tier.

Immer wieder sah er auf die Uhr, aber in diesem Betrieb verging die Zeit nur schleppend. Rolke saß auf seinem Melkschemel neben der Kuh, die er gerade molk, hielt das Melkzeug mit einer Hand und mehr als einmal schlief er bei der abendlichen Kontrolle ein. Allmers warf dann meistens eine Mistgabel oder eine Schaufel um und freute sich, wenn der Bauer von dem Lärm erschrak und aufwachte.

Als er endlich seine Sachen eingepackt hatte, seufzte er. Es war erst die Hälfte dieser sich Monat für Monat wiederholenden Qual vorbei. Am nächsten Morgen standen die nächsten beiden Stunden Milchkontrolle an.
Er beschloss, auf dem Heimweg einen kleinen Umweg zu machen und bei Wienberg einzukehren. 

Wienberg war eine altertümliche Kneipe, in der es nichts zu essen gab und die Getränkekarte keine große Auswahl bot. Der Wirt hätte sich allerdings auch nicht erinnern können, wann ein Gast das letzte Mal die Getränkekarte zu sehen gewünscht hätte. In dieser Kneipe gab es Bier und Korn, für die Frauen Apfelkorn oder ein paar süße Liköre. Irgendwann verirrte sich ein Durchreisender, der von der Elbefähre kam, zu Wienberg und meinte, er würde gerne die Weinkarte sehen, welchen Wein der Wirt denn empfehlen könne?
„Weißen oder roten“, war die Antwort. 

Nach zwei Stunden auf den ungepolsterten Stühlen war Allmers klar, dass er jetzt besser sehr langsam nach Hause fahren musste. Dass es spät geworden war, war Allmers egal. Zu Hause erwartete ihn niemand. Seit Susannes Weggang nach Berlin hatte er keine Frau kennen gelernt, mit der er es hätte aushalten wollen.

Allmers setzte sich ins Auto und versuchte einen völlig normalen Eindruck zu machen. Die Straße, an der Wienbergs Kneipe lag, war stark befahren und die Gefahr, dass ein Streifenwagen vorbeikam, war groß. Nach mehreren Versuchen passte der Schlüssel ins Zündschloss, er startete das Auto und fuhr los.

Der neue Kreisel, der am Eingang des Dorfes erbaut worden war, war in der Bevölkerung sehr umstritten. Überall im Landkreis schossen diese Bauwerke aus dem Boden, meist dekoriert mit irgendwelchem maritim wirkenden Altmetall. In Stade gab es einen Kreisel, bei dem die Stadt sich billig verschrottete Bojen besorgt und sie schreiend bunt angemalt auf der Mitte des Kreisels entsorgt hatte. Ob das den Tatbestand der unerlaubten Lagerung von Abfall darstelle, hatte sich Allmers gefragt und beschlossen, dieses juristische Problem gelegentlich mit seinem Bruder zu besprechen.

Aus dem Inhalt:

Eduard Rolke ist ein äußerst unbeliebter Mensch in dem kleinen Dorf, in dem er als Bauer lebt. Als er eines Morgens mit eingeschlagenem Schädel in seinem Stall zwischen  den Kühen tot aufgefunden wird, trauert so recht keiner um ihn. 

Hans-Georg Allmers, bekannt als ermittelnder Milchkontrolleur aus dem gleichnamigen Krimi-Erstling Thomas B. Morgensterns, steht gemeinsam mit einem Bruder Werner, dem Staatsanwalt aus Stade, wieder vor schwierigen Ermittlungen. Schließlich geschieht ein weiterer Mord, der auf den ersten Blick in keinerlei Zusammenhang mit dem toten Bauern Rolke zu stehen scheint… 

Wie schon im Milchkontrolleur entführt der Autor wieder in die Welt eines kleinen norddeutschen Bauerndorfes, erzählt ebenso humorvolle wie ernste Geschichten vom Leben auf dem Lande und von so manch skurrilem Dorfbewohner. Vor allem aber bietet er wieder eine verzwickte Kriminalgeschichte, die von der ersten bis zur letzten Zeile Spannung verspricht. 

Der Autor: 

Thomas B. Morgenstern, Jahrgang 1952,  bewirtschaftet mit seiner Familie einen biologisch-dynamischen Bauernhof in der Elbmarsch bei Stade. Der Diplom-Biologe, der auch einige Semester Germanistik und Theaterwissenschaften studiert hat, ist seit Jahren als Schriftsteller tätig. Im MCE-Verlag debütierte Morgenstern im Herbst 2005 mit seinem Krimi Der Milchkontrolleur, der zu einem Überraschungserfolg wurde.

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Hörbuch – Der Milchkontrolleur

Kriminalromane, Thomas B. Morgenstern

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

Hoerbuch-Morgenstern

Hörbuch – Der Milchkontrolleur

Kriminalromane, Thomas B. Morgenstern

Hörbuch, ungekürzt, mit fünf CDs, 360 Minuten

Art.-Nr.: ISBN: 978-3-938097-0

Preis: EUR 25.90

Hörprobe

gelesen von Peter Kühn

Am Anfang geschieht der Mord: Else Weber, eine Frau mit zweifelhaftem Ruf, wird mit durchschnittener Kehle in einem Graben in der Nähe ihres einsam gelegenen Hauses gefunden. Die Ruhe in dem kleinen Dorf zwischen Elbmarsch und Moor ist dahin. Hans-Georg Allmers, der als Milchkontrolleur auf den Höfen aus und ein geht, hilft mehr oder weniger unfreiwillig seinem Bruder, einem Staatsanwalt in der Kreisstadt Stade, bei den Ermittlungen. Schließlich gerät er sogar selbst in Verdacht und wird verhaftet. Am Ende kommt es zu einer dramatischen Polizeiaktion, es gibt weitere Tote . . .

Doch der Fall Else Weber nimmt zum Schluss eine ungeahnte Wendung.

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Der Milchkontrolleur

Kriminalromane, Thomas B. Morgenstern

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

Der Milchkontrolleur

Der Milchkontrolleur

Kriminalromane, Thomas B. Morgenstern

Kriminalroman: Paperback, 208 Seiten

Art.-Nr.: 3-938097-03-5

Preis: EUR 10.90

Leseprobe:

Sie hatten sich mit Bedacht an diesem Tag verabredet. Obwohl das Haus einsam stand und niemand in der Nähe war, begrüßten sie sich wie immer nur wortlos, als ob das ganze Dorf zuhören würde. Meist liebten sie sich erst schweigend, bevor sie leise zu reden begannen, immer in der absurden Angst, jemand könne sie belauschen und ihr Geheimnis lüften. Die Farben, mit denen das Feuerwerk an diesem Abend den Himmel bemalt hatte, spiegelten sich auf ihrer Haut wider. Sie hatte in diesem Licht viel jünger ausgesehen als sie war, und er hatte sich über ihre schnell wechselnde, bunte Bemalung amüsiert. 

Nachdem sie ihn verabschiedet hatte, ging sie in ihr Badezimmer, zog sich aus, stellte die Dusche an und stieg unter den warmen Strahl. Sie glaubte, als sie sich abseifte, immer noch die Hände des Mannes auf ihrem Körper zu spüren. Er war wieder sehr liebevoll gewesen, sie hatte es genossen und das warme Wasser schien seine Liebkosungen zu wiederholen und zu verstärken. Sie duschte ausgiebig, erst das langsam kälter werdende Wasser trieb sie aus der Dusche. Sie griff tropfnass nach ihrem Handtuch und stutzte. 

Sie überlegte kurz, ob das Geräusch an der Tür ihr bedrohlich vorkommen müsse. Sie hielt sich sechs oder sieben Katzen, die ihr halfen, die Ratten und Mäuse im Zaum zu halten. Wenn die Katzen ins Haus wollten, machten sie sich an den Türen mit leichtem Kratzen bemerkbar. Sie entschied, sich das wohlige Gefühl der Befriedigung, das den ganzen Abend durchzogen hatte, nicht verderben zu lassen durch ein paar scharrende Katzen. Sie öffnete die Badezimmertür und versuchte, die Katzen mit einem lauten Zischen zu vertreiben. Das Geräusch war augenblicklich verschwunden und erleichtert putzte sich Else Weber die Zähne, strich mit der Haarbürste einmal nachlässig durch ihr Haar und zog ihr Nachthemd an. 

Sie verließ das Badezimmer und sah erstaunt auf die gegenüberliegende Tür, die von der Wohnung in den ehemaligen Stalltrakt des alten Bauernhauses führte. Sie presste die Lippen zusammen, so wie sie es immer machte, wenn sie plötzlich Angst verspürte. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Else Weber wunderte sich, denn sie konnte sich nicht erinnern, sie geöffnet zu haben. Im Gegenteil, sie war sich sicher, dass diese Tür geschlossen war, als sie ins Badezimmer gegangen war. 

Die Angst ist wie eine Spinne, die in der dunklen Ecke auf ihr Opfer wartet, dachte sie und beschloss, ihr nicht ins Netz zu gehen. Dabei hätte sie allen Grund gehabt für eine ängstliche Reaktion. Sie war geschlagen, gedemütigt und bedroht worden auf eine Art, wie sie es sich nie hätte vorstellen können. Dann kam vor zwei Wochen dieser Brief, in dem sie beschimpft und ihr mit Vergeltung gedroht worden war. Sie hatte sich lange gefragt, wer was vergelten wolle, aber nie eine Antwort darauf gefunden. Aber nun schien dieser Spuk aus ihrem Leben verschwunden zu sein und sie beschloss, mit forschem Auftreten die Angst aus dem Hause zu jagen. Sie ging mit festem Schritt zu der Tür und wollte sie schließen. Sie erschrak heftig, als ein dicker Kater an ihr vorbei in die Wohnung schoss.

„Komm“, lockte Else Weber ihn erleichtert, als der Schreck nachgelassen hatte. Sie dreht sich um, hatte die offene Tür im Rücken und lockte das fauchende Tier weiter zu sich her. 

Als sich der Arm mit großer Gewalt um sie schlang, hatte sie noch nicht einmal Zeit zu schreien. Das Messer fuhr ihr rasend schnell durch den Hals und trennte mit einem Schnitt für immer das Leben aus ihr. Ihr Blut verließ den Körper stoßweise, verebbte schnell. Als der Arm sie losließ, sank ihr lebloser Körper zu Boden. 

Das blutige Nachthemd wurde ihr hastig heruntergerissen, ihr nackter und blutiger Leichnam auf eine Schubkarre gelegt und zu einem Graben gefahren. Dort kippte die Karre um. Es war kaum etwas zu hören, als der Körper die Uferböschung hinunter ins Wasser rutschte. Wie plötzlich ist Babel zerschmettert, dachte die in eine gelbe Regenjacke gehüllte Gestalt, die sich die Kapuze so über den Kopf gezogen hatte, dass man aus der Ferne nicht hätte erkennen können, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Sie warf nur einen kurzen Blick in den Graben, nahm die Schubkarre und ging zum Haus zurück. Die Karre wurde achtlos in eine Ecke des Hofes gestellt. Mit gesenktem Kopf ging die Gestalt über den großen Vorplatz und wollte die Haustür schließen, damit die Tat möglichst lange unentdeckt bliebe. Sie stand schon vor dem Haus, die Hand ausgestreckt, die Türklinke zu ergreifen, als sie sich anders entschied. Sie entschloss sich, durch das Haus zu gehen – mit offenen Augen. Sie trat ein, achtete darauf, dass ihre Gummistiefel nicht in die riesige Blutlache traten, die sich vor der Tür ausgebreitet hatte. 

Von der Regenjacke tropfte Wasser auf den Fußboden im Schlafzimmer, als sie das Licht anmachte. Sie sah sich um und trat an den kleinen Schreibtisch. Sie hatte keine Angst, entdeckt zu werden, um diese Nachtzeit kam zu der Bewohnerin des Hauses sicher kein Besuch mehr. Etwas Unbestimmtes in diesem Raum hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Als sie näher trat, wusste sie, was es war. Auf der ledernen Schreibunterlage lag ein kleines Buch, fast nur ein Heft. Sie blätterte darin und erkannte sofort, welchen Schatz sie damit gehoben hatte. Präzise standen Namen und Daten nebeneinander. Alle Besuche der letzten Jahre waren darin notiert. Als es umgedreht wurde, fiel ein Brief aus den Seiten. Sie hob den Umschlag auf, nahm das Buch an sich und verließ das Haus. 

Aus Else Webers Haus wurde sonst nichts entwendet, alles blieb unversehrt. Selbst das Geld, das offen auf dem Schreibtisch lag, wurde nicht gestohlen. Dass etwas fehlte, wurde erst nach vielen Wochen klar.

Aus dem Inhalt:

Am Anfang geschieht der Mord: Else Weber, eine Frau mit zweifelhaftem Ruf, wird mit durchschnittener Kehle in einem Graben in der Nähe ihres einsam gelegenen Hauses gefunden. Die Ruhe in dem kleinen Dorf zwischen Elbmarsch und Moor ist dahin. Hans-Georg Allmers, der als Milchkontrolleur auf den Höfen aus und ein geht, hilft mehr oder weniger unfreiwillig seinem Bruder, einem Staatsanwalt in der Kreisstadt Stade, bei den Ermittlungen. Schließlich gerät er sogar selbst in Verdacht und wird verhaftet. Am Ende kommt es zu einer dramatischen Polizeiaktion, es gibt weitere Tote . . .
Doch der Fall Else Weber nimmt zum Schluss eine ungeahnte Wendung.

Der Autor:

Autor Thomas B. Morgenstern bietet in seinem Krimi-Erstling mehr als nur eine überaus und bis zur letzten Zeile spannende Unterhaltung, er malt auch das Bild eines norddeutschen Bauerndorfes mit ebenso skurrilen wie liebenswerten Menschen. Mit seiner eingängigen Sprache zeichnet Morgenstern mit Einfühlungsvermögen die Charaktere seiner Protagonisten. In vielen Anekdoten und mit reichlich Humor entwirft der Autor über die kriminalistische Rahmenhandlung hinaus ein unverwechselbares Spiegelbild der ländlich-norddeutschen Lebensart.

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Der Tod der Präsidentin

Kriminalromane

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

Der Tor der Präsidentin

Der Tod der Präsidentin

Kriminalromane

Kriminalroman: Paperback, 151 Seiten

Art.-Nr.: ISBN: 978-3-938097-5

Preis: EUR 10.90

Leseprobe:

Leseprobe

Kapitel 1

Computer hochfahren und Outlook öffnen. So beginnt bei Christian Petersen der Arbeitstag. Meistens erwarten ihn dann unendlich langweilige Mails wie die neueste Ausgabe des Hamburgischen Gesetzes- und Verordnungsblattes oder die Mitteilung der Hausverwaltung des Hamburger Landgerichts, dass die Besuchertoilette im Erdgeschoss bald renoviert werden wird. 
Doch heute ist es anders: „Todesnachricht“ steht fett gedruckt in der Betreffzeile der Mail des Vizepräsidenten. Häufig kommen solche Mails von der Präsidentin und teilen mit, dass Kollegen, die in den neunziger Jahren pensioniert wurden, jetzt nach langer schwerer Krankheit verstorben sind.
Als Petersen die Mail öffnete, wurde ihm schnell klar, warum diese Mail vom Vizepräsidenten kam:
 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich muss Ihnen leider die traurige Mitteilung überbringen, dass unsere unendlich geschätzte Präsidentin Dr. Juliane Hansen heute am frühen Morgen tot in ihrem Dienstzimmer aufgefunden wurde. Die genauen Umstände ihres Ablebens sind noch unklar.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Ralf Schröder



Petersen haute es fast aus seinem alten wackeligen Schreibtischstuhl. Die Hansen tot, unter ungeklärten Umständen. Die Präsidentin war höchstens Anfang fünfzig und als er sie vor ein paar Tagen in der Kantine gesehen hatte, war sie noch quietschlebendig. Da konnte was nicht stimmen!

Petersen war einfach zu neugierig, er musste es tun. Er musste sofort bei der Staatsanwaltschaft anrufen, Hauptabteilung VI, zuständig für Tötungsdelikte. „Hallo Christian, wollen wir heute Mittag essen gehen?“, schallte es ihm aus dem Hörer entgegen. Oberstaatsanwalt Hendrik Bruns hatte beste Laune. So ein Tötungsdelikt versaut einem hartgesottenen Ermittler noch lange nicht den Vormittag. „Dann müsste ich ja ständig in mieser Stimmung sein, Leichen sind bei mir schließlich an der Tagesordnung“, so das Motto von Bruns, der die Hauptabteilung VI seit einem Jahr leitete.

Petersen kannte Bruns aus seiner Zeit bei der Hamburger Staatsanwaltschaft, wo beide mehrere Jahre eng zusammengearbeitet hatten. Daraus war eine Freundschaft entstanden, die bis heute Bestand hatte. Er schätze an Bruns, dass dieser auch in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf bewahrte und eigentlich nie seine gute Laune verlor. Zudem war Bruns einfach ein sympathischer und unterhaltsamer Zeitgenosse. 
Aber zur toten Hansen ließ sich er sich kein Wort entlocken. „Ich weiß doch selber nichts. Das Landeskriminalamt ist noch mit etlichen Leuten vor Ort inklusive ein Team der Spurensicherung. Halt das ganz große Geschirr.“ Also Fremdverschulden, dachte sich Petersen und schwieg ins Telefon. 
Doch Bruns ahnte seine Gedanken: „Natürlicher Tod oder Fremdverschulden, beides ist möglich, das müssen die Untersuchungen zeigen. Lass uns morgen essen gehen, dann weiß ich vielleicht mehr. Wie immer um 12 Uhr beim Portugiesen“, bellte Bruns zum Abschied ins Telefon.

Der Portugiese war bei der Hamburger Staatsanwaltschaft Kult. Klein und dunkel mit wackeligen Tischen und einer schlecht riechenden Toilette im Keller. Petersen liebte diesen Laden und die Treffen mit den alten Kollegen. 
Mehr als zehn Jahre hatte er bei der Staatsanwaltschaft verbracht. Ermittlungen vorantreiben, Anklagen verfassen, Plädoyers halten. Das war damals seine Welt. Tür an Tür mit Bruns und den anderen Kollegen. Mittags oder auch nach Feierabend gingen sie regelmäßig zum Portugiesen. 
Das kleine Restaurant lag in einer Seitenstraße der Hamburger Neustadt, in Sichtweite der Büros der Staatsanwaltschaft. Keine hundert Meter entfernt am Sievekingplatz befand sich das Hamburger Landgericht, wo Petersen jetzt arbeitete.

Der Sievekingplatz war seit mehr als hundert Jahren so etwas wie die Herzkammer der Hamburger Justiz. U-förmig angeordnet standen dort die drei denkmalgeschützten historischen Gebäude des Hanseatischen Oberlandesgerichts, des Landgerichts und des Amtsgerichts. 
Gemeinsam mit der gegenüber dem Sievekingplatz gelegenen Staatsanwaltschaft bildeten diese drei Gerichte das Hamburger Justizforum. Optimale Bedingungen für Richter und Staatsanwälte um sich kurzfristig für eine Verhandlung oder auch zum Mittagessen zu treffen.

Doch wieso es gerade der Portugiese geschafft hatte, zum beliebtesten Treffpunkt aufzusteigen, ließ sich rückblickend nur noch schwer erklären. Klar, die Küche war gut. Aber das altmodische und teilweise reparaturbedürftige Interieur entsprach so gar nicht den Ansprüchen, die insbesondere die Frauenwelt an ein Restaurant stellte. 
Doch die Hamburger Staatsanwaltschaft war zu Petersens Zeiten noch ein Jungsclub. Talentierte Juristinnen gingen lieber in die Ziviljustiz, vorzugsweise ins Familienrecht und übten sich dort in mediativer Verhandlungstechnik. 

Bei der Staatsanwaltschaft ging es darum, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Akten wegzuarbeiten. Und in der Hauptverhandlung einstecken und austeilen zu können. „Deine Kollegen erkenne ich an ihrem meist zu lauten Organ und an den ausgebeulten Anzügen aus den neunziger Jahren“, pflegte Petersens Frau zu sagen.
Doch in den vergangenen Jahren hatte sich die Hamburger Staatsanwaltschaft in rasanter Geschwindigkeit verändert: Ein zusätzliches Dienstgebäude, eine neue Generalstaatsanwältin und ganz viele neue junge attraktive Kolleginnen. Der Frauenanteil war inzwischen so groß, dass die Staatsanwaltschaft in überregionalen Anzeigen fast schon verzweifelt nach männlichen Bewerbern suchte. Nur die Treffen beim Portugiesen waren noch genauso wie immer.

„Auf jeden Fall schon mal zwei Sagres vom Fass“ rief Bruns dem Kellner schon beim Reinkommen zu. Er kam dann sofort zur Sache: „Der Fall ist nicht einfach. Es gibt keine Hinweise auf Fremdverschulden. Sie lag einfach tot auf dem Teppich in ihrem Dienstzimmer. Ziemlicher Schock für die Putzfrau. Nehmen wir die Calamari von der Tageskarte?“, fragte Bruns komplett übergangslos. 
Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sein Redeschwall wieder ein. „Laut dem von der Putzfrau alarmierten Notarzt ist die Hansen in der Nacht so gegen 22 Uhr gestorben. Doch woran, wissen wir noch nicht. Ich habe ein Todesermittlungsverfahren eingeleitet, streng nach Gesetz.“ 

Todesermittlungsverfahren: 
Die Strafprozessordung schreibt vor, dass bei einem Verdacht auf einen unnatürlichen Tod die Staatsanwaltschaft zu informierten ist. Diese hat dann darüber zu entscheiden, ob eine Leichenöffnung erforderlich ist.

„Die Frage ist doch: Wer profitiert von ihrem Tod?“, fragte Petersen ganz direkt. „So weit sind wir noch nicht. Erstmal geht es darum festzustellen, ob sie nicht eines natürlichen Todes gestorben ist. Dazu werten wir die Spuren in ihrem Dienstzimmer aus und überprüfen, mit wem sie in den letzten Stunden vor ihrem Tod noch Kontakt hatte. Und höchstwahrscheinlich muss auch Professor Buschmann ran“, beschrieb Bruns den weiteren Gang der Ermittlungen.
Vielen Dank Herr Oberstaatsanwalt für die Erläuterung des weiteren Verfahrens. Da wäre ich alleine nicht drauf gekommen, dachte sich Petersen und schwieg. Manchmal hatte er den Eindruck, dass dem Kollegen Bruns die Beförderung zum Hauptabteilungsleiter ein wenig zu Kopf gestiegen war. Dass in einem solchen Fall Professor Buschmann, Leiter des Rechtsmedizinischen Institutes des Universitätsklinikums, die Leiche obduzieren musste, war ja wohl eine Selbstverständlichkeit. 

Leichenöffnung: 
Eine Leichenöffnung wird nach der Strafprozessordnung immer von zwei Ärzten vorgenommen. Einer von ihnen muss Gerichtsarzt oder Leiter eines öffentlichen gerichtsmedizinischen oder pathologischen Instituts sein. Die Staatsanwaltschaft hat bei der Leichenöffnung ein Anwesenheitsrecht – auf ihren Antrag auch ein Richter.

„Kann ich an der Leichenöffnung teilnehmen?“, fragte Petersen ein wenig dreist. Bruns winkte ab: „Dafür kann ich nun beim besten Willen keine sinnvolle Erklärung erfinden. Ansonsten bin ich aber für jede Unterstützung dankbar. Schließlich ist ein Drittel meiner Leute im Moment mal wieder im Erziehungsurlaub. Das bringt die weibliche Übermacht bei den Berufsanfängerinnen so mit sich.“ 
Bruns schaute jetzt ein wenig hilfsbedürftig: „Hör dich doch bitte mal ein wenig am Landgericht um und berichte mir dann von deiner Präsidentin. Was war die Hansen für ein Mensch? Was hat die so spät noch im Gerichtsgebäude gemacht? Finde ich zumindest ziemlich ungewöhnlich.“

Petersen musste kurz nachdenken. Klar, die Hansen war seine Präsidentin, aber viel wusste er nicht über sie. Geboren in Hamburg-Blankenese, Mutter: Richterin, Vater: Partner einer alteingesessenen Hamburger Rechtsanwaltskanzlei, Bruder: ebenfalls Anwalt in dieser Kanzlei. 

Konsequenterweise war die Hansen auch mit dem Partner einer internationalen Rechtsanwaltskanzlei verheiratet. Die beiden lebten sehr zurückgezogen in einer Villa mit Elbblick am Rande vom Blankenese.
Doch was die Hansen gegen 22 Uhr noch in ihrem Dienstzimmer gemacht hatte, wusste Petersen natürlich auch nicht. Um diese Zeit hielt sich schon der nächtliche Wachschutz im Gebäude auf. Und die Eingangstüren waren normalerweise verschlossen, wenn nicht eine vom Hausmeister vergessen wurde. 

Doch das Dienstzimmer der Hansen war ohnehin immer abgeschlossen. Und zudem nur über ein Vorzimmer zu erreichen. Da kam niemand hinein, den die Präsidentin nicht sehen wollte. 
Aber wen wollte sie zu so später Stunde noch sehen? Mit wem hatte sie so wichtige Dinge zu besprechen, dass sie sich um diese Zeit mit ihm verabredete?
Das Mittagessen mit Bruns hatte in Petersen wieder das Ermittlergen geweckt. Wer mal bei der Staatsanwaltschaft war, verlor das nicht. 
Und Petersen hatte auch schon eine Idee, wer ihm bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte: Seine Lieblingskollegin, die seit rund einem Jahr im Präsidium des Landgerichts saß. 
Schließlich starb die Hansen in der Nacht vor der Präsidiumssitzung. „Ich hör mich mal um“, sagte er zu Bruns, „aber erstmal nehmen wir noch zwei frische Sagres, oder?“

Aus dem Inhalt:

Die Präsidentin des Hamburger Landgerichts liegt tot in ihrem Büro. Sie wurde mit Blauen Eisenhut vergiftet. Christian Petersen, Strafrichter am Hamburger Landgericht, nimmt gemeinsam mit seinem Freund Oberstaatsanwalt Hendrik Bruns Ermittlungen auf. In ihren Fokus geraten ein Richterkollege und die Staatsrätin der Hamburger Justizbehörde, deren Karriereplänen die Präsidentin im Wege stand. Parallel zu den Ermittlungen kriegt Petersen einen neuen Fall auf den Tisch, der sein Leben durcheinander wirbelt. Angeklagt ist eine junge Deutsche, die von Lateinamerika aus einen lukrativen Kokainhandel organisiert haben soll. Während des Verfahrens stellt sich heraus: Die Angeklagte ist die Tochter seiner Jugendliebe, die ihn verlassen hat, um in Kolumbien als Entwicklungshelferin zu arbeiten. Als sich die Indizien gegen die mordverdächtige Staatsrätin verdichten und gleichzeitig Petersens Jugendliebe nach Hamburg kommt, um ihrer Tochter beizustehen, überschlagen sich die Ereignisse. Am Ende gelingt es Petersen, gleich mehrere sorgsam gehütete Geheimnisse zu lüften… Jan Jacobsen verbindet packende Mordermittlungen im Justizmilieu mit einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Dies verspricht doppelte Spannung und in jederHinsicht besonderen Frauen.

Der Autor :

Jan Jacobsen ist ein Pseudonym. Dahinter steht Dr. Kai Nitschke, der wie sein Protagonist als Richter in Hamburg arbeitet. Weil er unter seinem richtigen Namen juristische Fachaufsätze veröffentlicht, hat er für seinen ersten Krimi das Pseudonym gewählt. Aufgewachsen ist Nitschke zwischen Elbe und Weser. Vor dem Eintritt in den Justizdienst arbeitete er mehrere Jahre als Journalist, unter anderem bei Finanztest und bei der Wochenzeitung Die Zeit. Der Tod der Präsidentin ist sein Debütroman.

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Die Chemie stimmt

Kriminalromane

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

Die Chemie stimmt

Die Chemie stimmt

Kriminalromane

Kriminalroman: Paperback, 315 Seiten

Art.-Nr.: ISBN: 978-3-938097-5

Preis: EUR 11.90

Leseprobe:

Kapitel 1: Der Totenschädel auf der Baustelle

Donnerstag, der 15. Juni 1972. Seit vier Wochen laufen die Arbeiten auf dem Gelände der künftigen Methocel Anlage. Es handelt sich um eine kleine Nebenbaustelle der Dow Chemical Deutschland auf dem Bützflethersand – in der Nähe der Schwinge auf dem Gelände der ehemaligen Ziegelei Stechmann. Deshalb wird dieses kleine Werk später auch Schwingewerk genannt. Der hier störende Wasserlauf, der sogenannte Kruken, ein einem Priel ähnlicher Wasserlauf, der sich durch einen Teil des Bützflethersandes zieht, ist vor zwei Wochen zugeschüttet und planiert worden. Ein kleiner Teil des Schwingewerkes ragt laut Plan über einen Teil des jetzt zugefüllten Kruken hinaus. Es ist sehr früh, seit sechs Uhr sind etwa zwanzig Arbeiter auf der Baustelle. Sie arbeiten am Fundament für eines der größten Fabriken in der Welt für Methylcellulose. Es wird ein schöner Tag werden, die Sonnenstrahlen haben eben die letzten Reste des morgendlichen Nebels aufgelöst. An der nordöstlichen Ecke fährt gerade die Ramme einer schwedischen Firma auf, sie soll in den nächsten zwei Wochen etwa einhundert Pfähle in den weichen Boden rammen, damit die Fabrik auf festem Fundament stehen kann. In diesem Moment fährt der Bauleitungsinspektor mit seinem Auto auf die Baustelle, er steigt aus und schreitet mit einer großen Zeichnung in der Hand die Baustelle ab. Am südwestlichen Ende der mit Sand aufgefüllten Fläche bleibt er eine Weile stehen, geht hin und her und blickt immer wieder auf seinen Plan. Er blickt sich um, das scheint ein Fall für den Vorarbeiter zu sein. „Alfred!“, ruft er laut, um die Planierraupen zu übertönen, „Alfred, komm mal her!“ Er untermalt die Wichtigkeit der Angelegenheit mit einer weitausholenden Bewegung seines Armes. Alfred Reinecke, der Vorarbeiter, löst sich aus der Gruppe der Männer, denen er gerade die Arbeit zuteilt. „Was ist los, Hans-Adolf? Warum brüllst du hier so rum?“ „Muss ich ja, wenn ihr mich hören sollt. Hör mal, ihr müsst ab und zu auch mal auf euren Plan gucken. Was ist denn mit der Feuerlöschleitung? Der Graben dafür hätte schon längst ausgeschachtet werden müssen.“ „Scheiße.“
„Da sagst du was. Ich fürchte, da habt ihr noch etwas zum Nachbessern.“
Eine halbe Stunde später läuft Vorarbeiter Reinecke mit Maßband durch die Anlage, zwei Mitarbeiter trotten mit Markierungsstäben hinterher. Zwei Stunden später ist der Graben für die Feuerlöschleitung ausgemessen und gekennzeichnet. „So, nun seht zu, dass ihr das jetzt ausschachtet. Die paar Meter habt ihr doch schnell geschafft!“ Es muss nur ein kleines Stück mit der Hand ausgehoben werden, der größere Teil wird morgen mit dem Bagger erledigt. Drei Männer stehen nebeneinander in dem kurzen Graben und schwingen ihre Schaufeln. Trotz der frühen Stunde ist es schon warm, es wird heute wieder heiß werden. Der Schweiß beginnt zu fließen. „Verdammt, hier ist ein Stein!“ Arbeiter Friedrich Meister kratzt mit der Schaufel den Sand fort, um den vermeintlichen Stein frei zu legen. Doch dann kommt es ihm nicht mehr wie ein Stein vor, er bückt sich, um den Fund in Augenschein zu nehmen. „Verdammt, Kinnings, das ist ein Schädel!“ „Was?“ Die Kollegen kommen zu seinem Teil des Grabens, Friedrich Meister springt wie von der Tarantel gestochen aus der Grube und läuft zur Baubude, zu seinem Vorarbeiter. Alfred Reinecke sieht von einer Liste auf. „Was gibt’s, Fiete? Bist du auf Gold gestoßen?“ Er mustert seinen Mitarbeiter. „Wie siehst du denn aus? Du bist ja ganz blass!“ Jetzt findet Friedrich seine Sprache wieder. „Du musst mal gucken, Alfred. Ich glaube, ich habe einen Totenschädel gefunden.“
„Du hast was?“ Die Stimme von Vorarbeiter Reinecke überschlägt sich fast. „Damit macht man keine Witze!“
Friedrich Meister nickt lautlos, dann krächzt er: „Nein, ganz im Ernst, ich bin eben beim Buddeln auf einen menschlichen Schädel gestoßen. Du musst kommen und dir das angucken!“ Alfred läuft hastig seinem Arbeiter hinterher. Wenn das mit dem Schädel stimmt, gibt es sicher eine Verzögerung von ein paar Tagen. In seinem Kopf schiebt er bereits Termine hin und her, um den knappen Zeitplan noch einhalten zu können. Friedrich springt in den Graben, bückt sich und weist auf den Fund unten im Sand. „Hier bitte, sieh selbst!“
Alfred Reinecke sieht auf den Schädel. „Scheiße Friedrich, du hast Recht.“
„Glaubst du, ich bin blöde? Ich bin auch mal zur Schule gegangen.“
Alfred sieht sich um und kratzt sich nachdenklich am Kopf. „Wir müssen zuerst die Stelle markieren, hier darf nicht weitergearbeitet werden. Steckt ein paar Stäbe in den Sand, Moniereisen oder so etwas, und verbindet sie mit dem weiß-roten Flatterband, ich werde die Polizei benachrichtigen.“

Werner Hansen sitzt in seinem Büro, er hat sich für einen Moment von seinem Bericht gelöst und klönt mit seinem Kollegen Wolfgang Ebert. Der ist ein Jahr älter als er und besetzt die nach dem Ruhestand von Jürgen Krüsmann freigewordene Stelle. Werner Hansen ist nach der Pensionierung seines von ihm sehr geschätzten Kollegen vor fünf Jahren zum Kriminaloberkommissar befördert worden und leitet nun kommissarisch die Mordkommission. „Triffst du dich noch gelegentlich mit dem Hauptkommissar?“, möchte Wolfgang Ebert wissen.
„Klar doch! Er war nicht nur mein Chef, sondern ist immer noch mein Freund und Ratgeber.
Das Telefon klingelt, Werner Hansen zieht es zu sich heran. „Hansen, Kriminalpolizei Stade.“
Er hört eine Weile zu und macht sich ein paar Notizen. „Wie kann ich Sie finden? – Aha, an der Stader Elbstraße, Richtung Stadersand. Ihr Name ist Alfred Reinecke, habe ich das richtig verstanden? Okay, wir kommen. In etwa einer halben Stunde werden wir bei Ihnen sein.“ „Was war das denn?“, möchte sein Kollege wissen.
„Bei Ausschachtungsarbeiten hat man einen Schädel gefunden, wir sollen uns das mal ansehen. Ich rufe noch den Pathologen an, dann treffen wir uns an der Baustelle.“ Zwanzig Minuten später sitzen die beiden Kommissare in ihrem Dienstwagen, es ist ein schon etwas betagter beige-brauner Volkswagen, den schon sein Ex-Chef gefahren hat. „Zuerst die Freiburger Straße bis zum Obstmarschenweg, hinter der Durchfahrt durch den alten Deich und dann noch einen guten Kilometer“, erklärt Werner seinem Kollegen die Fahrstrecke. Das entstehende Schwingewerk ist allerdings kaum zu übersehen. Direkt in der langen Rechtskurve der Stader Elbstraße kann man bereits die Bagger, Planierraupen und die Buden der Bauarbeiter auf der linken Seite sehen. Werner biegt links ab, fährt auf die Baustraße, und hält neben einer Blechbaracke. Kaum hat er den Motor abgestellt, kommt jemand aus der Bude. „Das ist gut, dass Sie so schnell kommen konnten. Mein Name ist Alfred Reinecke, ich bin der Vorarbeiter der Firma Matthies, der Baufirma für die Erdarbeiten und den Betonbau.“ „Ich bin Kriminaloberkommissar Hansen, das ist mein Kollege, Kriminalkommissar Ebert.“
„Folgen Sie mir, der Fundort ist etwa einhundert Meter von hier.“ Alfred Reinecke geht voraus, schon bald ist das weiß-rote Flatterband der Absperrung zu erkennen. Werner Hansen sieht sich aufmerksam um. In einem Kilometer Entfernung sind die hohen Destillationskolonnen der Allylchlorid-Anlage zu sehen, dahinter befindet sich ein weiteres Werk, die PO/PG-Anlage. Die Stader Elbstraße nach Stadersand ist nicht weit entfernt, etwa hundert Meter hinter ihm. Jetzt haben sie das ausgeschachtete Loch erreicht, der Vorarbeiter weist nach unten in den etwa einen Meter tiefen Graben. Die beiden Kommissare bücken sich und begutachten den Fund aus der Nähe. „Habt ihr noch mehr gefunden, Knochen oder so was?“, fragt Kommissar Hansen den Vorarbeiter. „Nein, das ist alles, was wir haben. Soll ich meine Leute weitergraben lassen?“
„Nein, besser nicht. Ich werde die Spurensicherung benachrichtigen, die werden den Sand an der Fundstelle vorsichtig abtragen.“
Alfred Reinecke sieht seinen Zeitplan den Bach runtergehen. „Wie lange mag das dauern?“
Kommissar Hansen schüttelt den Kopf. Es ist überall dasselbe, am liebsten wäre es den Verantwortlichen, die Polizei würde auf der Stelle wieder umkehren. „Das ist schlecht zu sagen, vielleicht zwei Tage? Das kommt darauf an, wie komplett die Leiche ist und wie viel Gelände wir freilegen müssen.“ Plötzlich steht der Pathologe Dr. Messmer hinter ihnen. Wegen des Sandes haben sie seine Schritte nicht gehört. „Guten Tag, meine Herren!“, macht er sich bemerkbar. „Hallo, Doktor. Wir haben schon gedacht, Sie kommen gar nicht mehr.“
Doktor Messmer lächelt etwas säuerlich, er kennt seine jungen Kollegen von der Kriminalpolizei. „Ihr habt wahrscheinlich alle Geschwindigkeitsbeschränkungen übertreten, nach dem Motto: Wir sind die Polizei!“ Er bückt sich und sieht zum Schädel hinunter. „Das Wichtigste für uns ist im Moment, ob es ein Verbrechen war und wann die Person gestorben ist.“
„Das würdet ihr wohl gerne sofort wissen, was? Dafür benötige ich leider mehr Zeit. Vor allen Dingen muss der Rest des Körpers gefunden werden, wenn er denn existiert.“ „Gut, Doktor, ich werde vom Büro der Bauleitung aus die Spurensicherung informieren.“
Der Pathologe lässt sich etwas ungelenk in den Graben hinabgleiten, er ist nicht mehr der Jüngste. Jetzt zeigt er auf eine Stelle am Schädel, die mit Sand gefüllt ist. Er wischt den Sand mit der Hand herunter. „Hier! Die erste Frage kann ich sofort beantworten. Es war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Tötungsdelikt. Seht ihr das Loch? Es ist etwa ein bis zwei Zentimeter breit und fünf Zentimeter lang. Die Lage am Vorderschädel lässt eher auf einen Schlag als auf einen Sturz schließen.“ Die beiden Kommissare staunen, Doktor Messmer genießt es, sie so überrascht zu haben. „Die Hautreste am Schädel sind noch nicht völlig zersetzt, danach könnte es zwischen zwei bis fünf Jahren her sein. Das ist aber nur eine grobe Schätzung, mehr erfahrt ihr…“ „In zwei Wochen“ ergänzt Werners Kollege Wolfgang Ebert grinsend.
Der Pathologe schüttelt sein graues Haupt. „Womit habe ich das verdient? Ich könnte euer Vater sein, bitte etwas mehr Respekt.“ Er lächelt still vor sich hin, die Arbeit mit den beiden jungen Leuten macht ihm viel Freude, sie sind angenehme Kollegen, tüchtig und hilfsbereit. Er räuspert sich. „Die Bestimmung des Skelettalters ist nicht einfach, ich kann euch einen Tag, nachdem mir alle Teile vorliegen, eine sehr grobe Datierung geben, um es genauer zu bestimmen, kann es auch zwei Wochen dauern.“ Er sieht Wolfgang Ebert über den Brillenrand hinweg an. „Ja, ja, ich wollte nur witzig sein“, lenkt der ein.
„Kann ich bei Ihnen telefonieren?“, fragt der Oberkommissar den Vorarbeiter.
„Ja, sicher doch, bitte hier entlang!“ Alfred Reinecke eilt voraus, sein ganzes Bestreben gilt jetzt der raschen Abwicklung dieser leidigen Angelegenheit.
Werner Hansen blickt nach oben. Im Moment sieht es noch gut aus, keine Wolke zeigt sich am stahlblauen Himmel. „Falls sich das Wetter verschlechtern sollte, könnten Sie dann bitte ein Zelt über dem Fundort anbringen lassen?“ Der Vorarbeiter hält dem jungen Mann die Tür zu seiner grauen Blechbude auf. „Klar doch, ich bin sehr daran interessiert, dass wir bald weiterarbeiten können.“
Werner Hansen spricht mit den Kollegen von der Spurensicherung. Er hört, dass sie in einer Stunde kommen können. „Wunderbar, ich warte, bis Sie hier sind, und fahre dann wieder zum Kommissariat zurück.“ Er legt den Hörer auf und sieht den vierschrötigen Vorarbeiter an. „Ich fange am besten bei Ihnen an: Wer hat den Toten gefunden?“ „Das war mein Mitarbeiter, Friedrich Meister, heute Morgen, kurz nach elf.“
Kommissar Hansen schreibt in sein zerfleddertes Notizbuch, bald wird er ein neues benötigen. „Seit wann wird hier auf der Baustelle gearbeitet?“
Der Vorarbeiter kratzt sich am Kopf und schiebt dabei seinen Bauhelm auf den Hinterkopf. „Seit ziemlich genau einem Monat. An einem Mittwoch, das war der 17. Mai, sind hier zuerst Vermessungen durchgeführt worden.“ „Ist Ihnen in der Zeit irgendjemand aufgefallen? Jemand, der nicht hierhergehört?“
„Nein, das nicht. Ich kann allerdings nicht jeden überprüfen, es ist ein ständiges Kommen und Gehen auf der Baustelle.“
„Hm, ja, das kann ich mir vorstellen.“ Werner Hansen klappt sein Büchlein zu und geht nach draußen. Sein Kollege spricht mit einigen Bauarbeitern, die sich um ihn geschart haben. „Schon irgendwelche Erkenntnisse?“ „Nein. Wir scheinen hier ein paar Jahre zu spät zu sein. Ich fürchte, wir müssen in die Vergangenheit abtauchen.“
„Das scheint mir auch so. Wir sollten von Doktor Messmer die Bestimmung des Alters und des Geschlechts abwarten, dann legen wir los. Ich werde auch meinen früheren Chef Jürgen Krüsmann anrufen, der war bis zu seiner Pensionierung Leiter der Mordkommission bei uns in Stade. Er hat vielleicht noch eine Idee.“ Ein weißer Opel Rekord fährt durch die Öffnung im Bauzaun, sie kennen das Fahrzeug, es gehört der Abteilung für Spurensicherung. Die beiden Kommissare begrüßen ihre Kollegen und führen sie zu der Fundstelle. Herr Marksen, einer der beiden Mitarbeiter von der Kriminaltechnik, sieht in den ausgehobenen Graben hinunter. „Wir müssen über ein paar Quadratmeter den Sand vorsichtig entfernen, um die ganze Leiche – wenn sie denn hier liegen sollte – zu bergen. Das wird bis mindestens morgen Abend dauern.“

„Guten Tag, Herr Ebert. Ich wollte ihnen die bislang vorliegenden Erkenntnisse der Untersuchung des Skelettes mitteilen.“
„Legen Sie los, Doktor, ich bin bereit, mitzuschreiben.“
„Also, dann: Wir haben das komplette Skelett gefunden, nur der Kopf ragte in den Graben für diese Feuerlöschleitung hinein. Nur dreißig Zentimeter weiter, und die Leiche wäre nie entdeckt worden. Gut, jetzt zu den Einzelheiten. Der Tote war männlich, man kann das am fehlenden Geburtskanal im Becken erkennen. Er war normal groß, etwa 1,75 Meter, plus/minus fünf Zentimeter. Genauer geht es jetzt nicht mehr.“ Kommissar Ebert nickt, was sein Gesprächspartner natürlich nicht sehen kann. „Sehr gut, das hilft uns bestimmt weiter.“
„Weniger genau ist das Todesalter zu bestimmen. An dem Zustand der Knochen und den Resten der Haut und der Sehnen würde ich meinen, dass er etwa drei Jahre tot ist, plus/minus etwa ein Jahr. Ich habe Kontakt mit der Rechtsmedizin vom Eppendorfer Klinikum aufgenommen und hoffe, dass die Kollegen es noch genauer beurteilen können. Was noch? Ja, der Mann war zum Zeitpunkt des Todes etwa 45-50 Jahre alt. Die Form des Loches im Schädel lässt auf einen Hieb mit einer Axt schließen. Vielleicht war es auch ein Spaten. Das Gebiss ist noch gut erhalten. Wir sollten Verbindung mit den Zahnärzten in der Umgebung aufnehmen.“ „Das würde uns sicher weiterhelfen. Ich werde schon mal die alten Vermisstenanzeigen durchsehen, mal sehen, was sich aus der Zeit finden lässt.“
„Der Tote ist mit ziemlicher Sicherheit in einem Sack zum Fundort gebracht worden, es sind Reste von Fasern in der Umgebung der Leiche gefunden worden. Dazu noch ein paar Ziegelsteine, die dienten wohl zur Beschwerung. Das ist aber nur eine Vermutung, diese Ziegel findet man dort überall. Darüber können die Kollegen von der Spurensicherung wahrscheinlich mehr sagen.“ „Vielen Dank, Doktor. Sie waren uns wieder einmal eine große Hilfe.“

Am folgenden Wochenende ist ein Besuch des Oberkommissars Hansen bei seinem früheren Kollegen, Jürgen Krüsmann, vorgesehen. Genau genommen hat Werner Hansen sich bei „den Krüsmanns“, wie er immer sagt, fast selbst eingeladen. Er hat seinen alten Chef angerufen und das Gespräch, unauffällig, wie er meinte, auf seinen neuen Fall gebracht. Wie zu erwarten, war der alte Kriminalbeamte neugierig geworden und hatte die kleine Familie eingeladen. Die Aktion erfordert einige Planung. Seine Frau Gabriele soll mitfahren, ebenso ihr erstes Kind, Christian. Ein zweites Kind ist unterwegs, man sieht es seiner rothaarigen Frau schon an, sie ist im sechsten Monat schwanger. Jürgen Krüsmann und seine Lebensgefährtin Anna von Rönn freuen sich sehr über den Besuch. Der Junge wird geherzt, er ist ein süßer Knirps von drei Jahren, mit rotblonden Haaren. „Soll das nächste Kind wieder ein Junge werden?“, fragt Anna von Rönn.
„Wenn er so lieb sein wird wie sein Bruder, ist mir das egal“, erklärt die junge Mutter. „Obwohl, ein kleines Mädchen wäre mir auch recht. Werner ist das sowieso egal – sagt er jedenfalls“, fügt sie noch lächelnd hinzu. Werner sitzt bei seinem alten Kollegen in dessen Arbeitszimmer, die Frauen haben es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht, der kleine Christian spielt mit einem Blechauto auf dem Teppich. „Wie fühlst du dich?“, fragt die Ältere, „ist alles in Ordnung mit dem Baby?“
Gabi Hansen lächelt. „Ja, der Doktor sagt, es ist alles bestens.“ Die junge Frau blickt versonnen zu ihrem Sohn hinüber. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich so ein normales Leben führen kann.“ Anna weiß, worauf Gabi anspielt. Sie war in ihrer Jugend, bevor sie Werner Hansen kennengelernt hatte, auf dem Kiez in Sankt Pauli gestrandet und nur unter großer Mühe dieser Welt entkommen. Anna schüttelt sachte den Kopf. „Das ist das Leben, das schon immer für dich vorgesehen war, sonst hättest du nicht so eine Freude daran. Wo wir gerade von Freude sprechen: Wollen wir nicht nächste Woche mit Christian zu Hagenbeck fahren? Einen schönen Tag verbringen? Was meinst du?“ Christian bekommt das mit und springt auf: „Ja! Hagenbeck! Ich will zu den Elefanten!“ Die beiden Frauen freuen sich wegen seines Eifers.
Im Arbeitszimmer haben sich Kommissar a. D. Krüsmann und Kommissar Hansen einen Cognac eingeschenkt, der alte Herr holt eine Pfeife aus einem Schubfach und fängt an, sie bedächtig zu stopfen. „Du rauchst Pfeife? Seit wann das denn?“
Jürgen Krüsmann lacht. „Ich hab‘ schon Pfeife geraucht, da bist du noch zur Schule gegangen, mein Lieber! Ich habe im Krieg damit angefangen, hab‘ es bei einem Kameraden gesehen und fand es irgendwie so gemütlich. Man ist aber während des Krieges und auch danach kaum an guten Tabak gekommen und da bin ich irgendwie an den Zigaretten hängen geblieben. Inzwischen kann man aber wirklich guten Tabak kaufen und diese Pfeife“, er hält sie in das Licht, damit sein Freund sie ausgiebig bewundern kann, „hat Anna mir zu Weihnachten geschenkt. Ein Schmuckstück, oder?“ Werner versteht nichts von den Feinheiten einer guten Pfeife, aber sie sieht sehr edel aus. „Bildschön“, sagt er höflich. Wohlriechender Rauch steigt aus dem Pfeifenkopf auf. „Hast du dich inzwischen an den Ruhestand gewöhnt?“, fragt er dann. Jürgen Krüsmann lacht. „Ich habe keine Langeweile, falls du darauf anspielen solltest. Ich freue mich aber immer über die Berichte aus deinem Polizeialltag. Du hast doch sicher auch jetzt etwas auf dem Herzen, oder?“ Er lächelt seinen jungen Kollegen aufmunternd an. Seinem alten Chef kann er nichts vormachen. „Ich habe tatsächlich eine Frage zu meinem neuen Fall und ich bin sicher, dass du mir weiterhelfen kannst, denn der eigentliche Vorgang reicht in eine Zeit zurück, in der Du noch im Dienst warst, ich war dagegen wahrscheinlich noch in Hannover auf der Schule.“ Ex-Hauptkommissar Krüsmann lehnt sich entspannt zurück und lauscht konzentriert der Beschreibung seines Nachfolgers. Er lässt das Gehörte noch einen Moment sacken. „Du hast doch bestimmt schon alle Vermisstenfälle durchgesehen, oder?“ „Ja, ich habe 1964 angefangen, bis 1970, um ganz sicher zu gehen.“
„Und, war etwas dabei?“
„Es gibt noch ein paar ungeklärte Fälle, zweimal ein vermisstes Mädchen und ein vermisster Landwirt aus Bützfleth. Die Mädchen fallen durch das Raster, der Landwirt wurde nach deiner Zeit als vermisst gemeldet. Er passt vom Alter und der Größe zu dem gefundenen Skelett, wir glauben deshalb, dass er der Tote ist.“ „Wie heißt er denn, vielleicht fällt mir ja etwas ein?“
„Es sollte ein Obstbauer mit Namen Hermann Gerken sein. Sagt dir das etwas?“
Herr Krüsmann runzelt die Stirn. „Ja, ich erinnere mich, der wurde seit Juni 1969 vermisst. Das ist allerdings mehr deine Zeit.“
„Richtig, das stimmt. Ich erinnere mich nur leider kaum noch, und hoffe nun auf einige Eingebungen von dir.“
Kommissar Krüsmann holt aus: „Hermann Gerken war damals sehr unbeliebt bei seinen Nachbarn auf dem Bützflethersand, er ist überheblich und aufbrausend zu ihnen gewesen, damit hat er sich keine Freunde gemacht. Er hatte einen gut gehenden Obsthof und wäre durch den Verkauf seiner Ländereien an die Dow Chemical noch reicher geworden. Nur ist damals, als er verschwand, kein Tötungsdelikt erkannt worden, es wurde ja auch keine Leiche gefunden.“ „Gut, Jürgen, ich werde gleich Anfang der Woche in dem Umfeld anfangen. Du hast immer einen sechsten Sinn für solche Dinge gehabt, vielleicht muss ich dich noch ein paar Mal um Rat fragen.“ „Nur zu, du weißt, dass ich dir gerne helfe.“
„Was macht eigentlich dein Bein?“
„Das wird natürlich nicht besser. Da ich jetzt jedoch mehr Gelegenheit habe, mich auszuruhen, auch dank Annas Hilfe, wird es zu mindestens nicht schlimmer.“

Aus dem Inhalt:

Ein großer Chemiekonzern aus den USA will an der Elbe bei Stade ein neues Werk errichten. Die Besitzer der Ländereien machen das große Geschäft, Intrigen bahnen sich an und Ränke werden geschmiedet. Am Ende gibt es einige Millionäre in dem kleinen kehdinger Dorf Bützfleth. Aber das plötzliche Verschwinden eines Obstbauern, dessen Leiche Jahre später gefunden wird, überschattet die Freude über den neuerlichen Reichtum. Parallel wird die Liebesgeschichte eines jungen Paares erzählt, das in den Mord an den Bauern verwickelt ist. Kein einfacher Fall für die Stader Kommissare Krüsmann und Hansen. Der Roman spielt in den Jahren 1966-1972 in Bützfleth und der Region um Stade. Der Autor beschreibt die Ansiedlungsgeschichte der Dow Chemical mit viel Detailwissen.

Der Autor:

Peter Eckmann, geboren 1947, lebt an der Niederelbe im Landkreis Cuxhaven. Er ist Ingenieur der Verfahrenstechnik und hat viele Jahre in dem Chemieunternehmen Dow im Werk auf Bützflethersand gearbeitet. Dieses Buch ist der erste Kriminalroman, der in der Heimat des Autors spielt und im MCE Verlag veröffentlicht wird. Er hat die Machtkämpfe um das Industriegelände bei Stade, das der US-Chemieriese für sein neues Werk ausgewählt hat, genau recherchiert und nachgezeichnet. Unter dem Pseudonym Allan Greyfox hat Eckmann bereits einige Wildwest- und Detektivromane geschrieben.

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Die Tote im Klosterpark

Kriminalromane, Michael Romahn

MCE – Der Regionalverlag aus dem Norden

Die Tote im Klostepark

Die Tote im Klosterpark

Kriminalromane, Michael Romahn

Paperback: 267Seiten

Art.-Nr.: ISBN: 978-3-938097-3

Preis: EUR 11.90

Leseprobe:

Kapitel 1


Sonntag, 19. Mai 2013: 

Es war kurz nach 23 Uhr, als Krystyna Janowska in den Harsefelder Klosterpark einbog. Es war kühl geworden an diesem Sonntagabend, viel zu kühl für diese Jahreszeit. Obwohl es teilweise ein sonniger Tag war, waren es jetzt höchstens noch zehn Grad. Krystyna war heilfroh, dass sie sich für den wärmenden Norwegerpullover entschieden hatte. Sie ging über den steinigen Weg zu den Teichen, vorbei an einer frisch gemähten Wiese und uralten Apfelbäumen. Sie war schon oft hier gewesen. Sie liebte es auf den alten Klostermauern zu balancieren oder einfach nur auf den Holzbänken an den Teichen zu verweilen und den Enten zuzusehen. Doch an diesem Abend stand ihr nicht der Sinn danach. Den ersten Teich ließ sie rechts liegen. Wie in Trance folgte sie dem Weg, der von hoch gewachsenen Erlen gesäumt war. Sie hob kurz den Kopf, schaute zum Himmel, und es schien so, als würden die Baumkronen mit den düsteren Wolken verschmelzen. 
Sie hatte keine Angst vor der Nacht. Warum auch? Sie war schon viele Male die unbeleuchtete Landstraße entlang gegangen, die zum Bauernhof führte, auf dem sie bis vor kurzem noch gearbeitet hatte. Aber diese Zeiten waren endgültig vorbei, und sie weinte den Leuten dort keine Träne nach. Wie sehr hatte sie das ständige Anbaggern von Jaroslaw gehasst. Dieses Arschloch hatte sie als Freiwild betrachtet. Sie hatte ihn angeschrien, von sich gestoßen, doch er hatte es immer wieder versucht. Und was taten die anderen, Adam, Jacek oder Irena? Nichts! Irenas Verhalten konnte sie gerade noch nachvollziehen. Sie hatte selbst genug damit zu tun, sich diese schmierigen Typen vom Hals zu halten. Irena hatte einfach nur panische Angst, die Nächste zu sein. Doch das Verhalten von Adam und Jacek war einfach nur widerlich. Sie sahen weg und schwiegen. Niemand wollte mit dem Bauern Ärger bekommen und riskieren, vom Hof gejagt zu werden. Also hielten alle brav den Mund. 


„Verlogenes Pack“, fluchte sie leise vor sich hin. Es gab einfach niemanden unter ihnen, dem sie noch vertrauen konnte oder mit dem sie hätte reden können.
Am Freitag vor zwei Wochen hatte sie ihren Wochenlohn eingesteckt und war ohne ein Wort der Erklärung gegangen. Einfach so! Sie hatte sich von niemandem verabschiedet, auch nicht von Irena. Es tat ihr fast ein wenig leid, dass sich Irena jetzt allein mit diesen Kerlen herumschlagen musste, aber Krystyna musste ihr eigenes Leben endlich in den Griff bekommen. Im Geiste malte sie sich das dumme Gesicht von Bauer Rieper aus, wenn er mitbekam, dass sie nicht mehr da war. Nie wieder würde sie für diesen Kerl schuften. Sollte er sich doch eine andere Dumme suchen, aber sie hatte endgültig damit abgeschlossen. Lange genug hatte sie getan, was andere von ihr verlangten. Zehn Stunden am Tag hatte sie auf diesem Bauernhof gearbeitet, bis ihr Rücken schmerzte und sie auf der harten Matratze in der Sammelunterkunft kaum in den Schlaf finden konnte. 


Mit acht Leuten hatten sie in der Scheune gehaust, deren grob verputzte Steinwände vom Schimmel überzogen waren. Eine Saison lang hatte sie es ertragen, oder besser ertragen müssen, bis sie Adriana traf, die wie sie aus der Nähe von Danzig kam und für einen reichen Bauunternehmer putzte. Adriana war es auch, die sie mit Svenja, der Tochter des Unternehmers, bekannt machte. Svenjas Vater war ein überheblicher alter Drecksack, der glaubte, für Geld alles kaufen zu können. Und meistens gelang es ihm auch. Aber dafür konnte Svenja natürlich nichts. 
Ihre Gedanken schweiften zurück zu jener verhängnisvollen Nacht auf dem Boot von Svenjas Vater. Es hätte eine ganz normale Party werden können, eine schöne Bootstour mit ihren Freundinnen, aber dieser Abend sollte ihr Leben von Grund auf verändern. Anfangs hatte Krystyna Svenjas Vater keine Beachtung geschenkt. Warum auch? Heinrich Wilkens war mehr als vierzig Jahre älter als sie, hatte ergrautes, stellenweise lichtes Haar und schob einen stattlichen Bauch vor sich her. Selbst seine eindeutigen Andeutungen ihr gegenüber hatte sie zunächst ignoriert. Doch als er ihr am Ende des Abends heimlich einen Zettel in die Hand drückte, ließ sie es zu. Es war eine Einladung zu einer Bootstour. Sie hätte den Zettel einfach ablehnen oder über Bord werfen können, doch sie tat es nicht. Schon am nächsten Tag auf seinem Motorboot bot er ihr ganz unverhohlen Geld an, wenn sie sich als Gegenleistung ein wenig um seine Geschäftspartner kümmern würde. Krystyna sollte sie bei Laune halten und einfach nur nett sein, bis die Verträge unterzeichnet waren. Sie willigte ein, obwohl sie wusste, was er mit „einfach nur nett sein“ meinte. Die Verlockung, diesem beschissenen Leben, das sie bislang geführt hatte, zu entfliehen, war einfach zu groß. 


Anfangs lief alles perfekt, doch die Angst, dass Adriana und Svenja etwas von ihrem Doppelleben mitbekommen würden, stieg von Tag zu Tag. In den ersten Wochen arbeitete sie weiter auf dem Bauernhof, als wäre nichts gewesen und kümmerte sich meist an den Wochenenden um die Kunden des Bauunternehmers. Ihr war klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis es auffliegen würde. Doch Heinrich Wilkens tat alles, um sie bei Laune zu halten. Als sie ihm sagte, dass sie es nicht länger auf dem Bauernhof aushalten würde, besorgte er ihr von einem Tag auf den anderen eine Mietwohnung, damit sie nicht länger dort arbeiten musste. Er kaufte ihr teure Kleider und sie hatte es genossen, in Sachen herumzulaufen, die sie sich selbst niemals hätte leisten können. Auch den Schmuck, den er ihr schenkte, kannte sie nur aus den Auslagen edler Juweliere. Den Gedanken, dass sie all das mit ihrem Körper bezahlte und ihre Seele verkaufte, verdrängte sie, so gut es eben ging. 


Doch wie aus heiterem Himmel trat er in ihr Leben. An einem Abend auf der Yacht, als sie sich zum ersten Mal begegneten, war sie voller Euphorie und hätte die ganze Welt umarmen können. Er war anders als die Männer, mit denen sie es für gewöhnlich zu tun hatte. Es war alles dabei: Schmetterlinge im Bauch, endlose Nächte und Träume, in denen ihr die Welt zu Füßen lag. Er flüsterte ihr unentwegt Komplimente ins Ohr und brachte ihr eine wärmende Decke, wenn es am Abend kühler wurde. Lange hatte sie davon geträumt, so einem Menschen zu begegnen. Und wenn heute Nacht alles so lief, wie sie es sich erträumte, würde sie bald ein ganz normales glückliches Leben führen. 


Sie hasste es plötzlich, sich im Badezimmer ihrer Mietwohnung in eine Fremde zu verwandeln, in die Rolle einer Hure zu schlüpfen, die für Geld zu allem bereit war. Sie wollte einfach Krystyna sein, eine ganz normale junge Frau. Sie wollte einfach nur geliebt werden, ohne dass ihr irgendjemand einen Schein zusteckte, weil sie wieder mal besonders „nett“ war. Den Anfang hatte sie schon heute Abend gemacht: Sie trug Jeans, T-Shirt und Pullover. Sie hatte kaum Make-up aufgetragen; und bis auf die feingliedrige, silberne Kette mit einem Kreuzanhänger, die sie zum achtzehnten Geburtstag von ihrer Oma geschenkt bekommen hatte, trug sie auch keinen Schmuck. 


Krystyna hatte sich ihre Worte lange überlegt, hatte gegrübelt, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Sie wollte ihn keinesfalls unter Druck setzen, aber sie wollte auch auf keinen Fall nachgeben. Dazu war es jetzt zu spät. Aber was wäre, wenn er nicht kam, einfach dieser Verabredung fernblieb? Nein, das würde er nicht wagen. Da war sie sich sicher. Sie unterdrückte die Zweifel, die in ihr aufstiegen und zwang sich zum Weitergehen.


Ihr Herz schlug immer schneller, je näher sie dem vereinbarten Treffpunkt kam. Krystyna wischte sich eine Locke ihrer blonden, schulterlangen Haare aus dem Gesicht. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht einmal spürte, wie ihre Hand ein paar Brennnesseln streifte, die hüfthoch am Wegesrand standen. Immer, wenn ihr das bei der Ernte passiert war, hatte sie sofort ein heftiges Jucken verspürt. Doch in dieser Nacht war alles anders. Sie zwang sich, nicht mehr an Jaroslaw und all die anderen zu denken. Diese Menschen hatten keinen Platz mehr in ihrem neuen Leben. 


Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie an Adriana und Svenja dachte. Sie standen ihr tatsächlich näher als viele, denen sie in der Vergangenheit begegnet war. Es lag eine unglaubliche Vertrautheit zwischen ihnen, die weit über eine gewöhnliche Freundschaft hinausging. Sie klammerte sich geradezu an sie, als eine Art Ersatz für ihre Eltern, ihre beiden Brüder und ihre Oma, die alle in Gdynia lebten, einer kleinen Küstenstadt nicht weit von Danzig entfernt. Ein paar Telefonate und Briefe konnten ihre Sehnsucht nach ihnen nicht im Geringsten vertreiben. 


Sie schloss für einen Moment die Augen, versuchte, ihre Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Erinnerungen an ihre Heimat Gdynia kehrten zurück. Sie dachte an die unbeschwerten Tage am Strand, direkt neben dem Yachthafen, an die schönen Stunden, die sie mit ihren Freunden dort verbracht hatte. Sie hatten zusammen gelacht und heimlich Bier getrunken. Niemand hatte sich darum gekümmert, dass Alkohol in der Öffentlichkeit verboten war. Damals träumten sie vom großen Glück, schauten sehnsuchtsvoll aufs Meer oder zu den sündhaft teuren Yachten, die im Hafen lagen. Obwohl sie sich kaum etwas leisten konnten, war es einfach eine schöne Zeit, damals am Strand von Gdynia. 


Sie erreichte die nächsten Teiche, überquerte die schmalen hölzernen Brücken und versuchte die Gedanken an Gdynia zu verdrängen. Sie musste sich auf das konzentrieren, was gleich kommen würde. In der Ferne war schon der lang gezogene Holzsteg zu erkennen, der über den sumpfigen Teil des Parks führte. Die Leuchten unter dem Geländer warfen ihr diffuses Licht auf den Steg. Es war still und mondlos, nur das Bellen eines Hundes war zu hören. Die pechschwarzen Wolkenfelder hatten den ganzen Park unter sich begraben. Es roch unangenehm nach Moder. Nur die Stockenten, die auf dem trüben Wasser schwammen, schien das nicht zu stören. 


Krystyna atmete tief durch. Sie wollte endlich eine Entscheidung, hier und jetzt. Und das galt nicht nur für heute Abend. Wenn alles gut lief, würde sie zu Svenja gehen und ihr alles erzählen. Sie hatte sich fest vorgenommen, reinen Tisch zu machen, auch auf die Gefahr hin, dass Svenja sie vom Hof jagen würde. Mit einem unbehaglichen Gefühl kam Krystyna dem Steg näher. Sie versuchte, die innere Anspannung zu unterdrücken.


Sie sah ihn schon von Weitem. Er stützte seine Hände auf das Geländer und starrte bewegungslos auf das morastige Wasser hinab. Krystyna betrat den Steg. Als er sie kommen sah, kam er ihr ein paar Schritte entgegen. Er musterte sie mit einer Intensität, die sie noch nervöser werden ließ. Trotz der nächtlichen Kälte spürte sie eine aufsteigende Hitze und hoffte, dass er es nicht bemerken würde. Sie hielt den Mund leicht geöffnet, hoffte tief in ihrem Inneren, dass er sie küssen würde, doch er dachte nicht daran. 
„Schön, dass du gekommen bist“, sagte er stattdessen und beinahe wäre sie wieder darauf hereingefallen; auf das tiefe Blau seiner Augen, diese warmherzige Stimme und den herben Duft seines After Shaves. Doch sie zwang sich, all das für kurze Zeit auszublenden. 


„Und?“, fragte sie ihn. „Wie hast du dich entschieden?“
„Krystyna“, begann er ausweichend. „Ich habe noch einmal über alles nachgedacht.“ Sie erkannte an seinem ernsten Gesicht und den zusammengepressten Lippen, was nun kommen würde. Er suchte nach Worten, während sie ihn fordernd ansah. Er kannte ihre Meinung ganz genau und sie würde nicht davon abweichen, egal, was auch kommen möge. 
„Das zwischen uns hätte nicht passieren dürfen“, hörte sie ihn sagen. „Es war ein Fehler, ein großer sogar.“ Er richtete seinen Blick wieder auf den Sumpf.
„Es war kein Fehler!“, korrigierte Krystyna ihn. „Es war Schicksal, und es sollte so sein! Wir gehören zusammen, das spüre ich doch!“ Sie trat auf ihn zu, wollte ihre Arme um seine Schultern legen. Ihre Körper berührten sich für einen kurzen Moment, doch er wich ihr aus. 


„Ich kann nicht“, flüsterte er kaum hörbar. Er fuhr sich mit den Händen übers Haar, wagte einen kurzen Blick in ihre Richtung. „Warum willst du das nicht akzeptieren?“ Krystyna gab einen verächtlichen Laut von sich. 
„Weil es falsch ist!“, erwiderte sie mit Bitterkeit in der Stimme. „Und weil ich weiß, dass wir zusammengehören.“ Sie wandte ihm den Rücken zu, verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr zorniger Blick schweifte über das dichte Gestrüpp auf der rechten Seite des Stegs. Er trat näher, legte seine Hände auf ihre Schultern. 
„Krystyna, warum können wir die Sache nicht friedlich beenden? Ich meine, das mit uns … “
„Das mit uns war für dich nur eine Sache?“ Krystyna fuhr herum. „Du nennst das, was zwischen uns passiert ist eine ‚Sache‘?“ Sie starrte ihn an, sekundenlang, dann nahm sie seine Hand, führte sie nach unten und legte sie auf ihren Bauch. 


„Wir bekommen ein Kind“, sagte sie leise. „Ich bin in der fünften Woche.“ Der Gedanke, dass er sie verlassen könnte, war schier unerträglich. Wie konnte er ihr das nur antun, nach all dem, was zwischen ihnen geschehen war, jetzt, wo sein Kind in ihrem Bauch heran wuchs? 
Er zog ruckartig die Hand weg, biss die Zähne aufeinander, um ja kein falsches Wort von sich zu geben. Wie konnte sie nur so naiv sein zu glauben, dass mit einem Kind alle Probleme gelöst wären? Seine Augen fixierten einen Punkt in der Ferne, irgendwo im Dickicht.
Sie schlang die Arme um seinen Nacken, wollte ihn küssen, doch er stieß sie von sich. Verletzt wandte Krystyna sich von ihm ab. Sie wagte kaum zu atmen. Ihre Hände krampften sich um eine Querstrebe des Geländers. 


„Es ist unser Kind”, flüsterte sie. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden und eine Träne ihre Wange hinab lief. „Und ich werde dieses Kind nicht wegmachen lassen!“ 
„Es ist nicht unser Kind“, sagte er. „Das war nicht abgemacht, Krystyna.“ Seine Stimme klang unwirklich, wie ein fernes Echo. Als er es sagte, fühlte sie sich wie vor den Kopf geschlagen. Alles um sie herum begann, sich aufzulösen, die Konturen der Sträucher und Bäume vermischten sich vor ihren Augen. Wieder kamen ihr die Tränen. Sie wischte sie sich mit dem Handrücken ab. Mit einer flüchtigen Bewegung strich sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Sie konnte nicht sehen, wie er ein Paar Lederhandschuhe hervorzog und lautlos überstreifte. Er schloss für Sekunden die Augen, dann legten sich seine Hände um ihren Hals. Er drückte zu; immer fester und fester. 


Sie rang nach Atem, versuchte, sich loszureißen. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust. Sie spürte, wie das Blut durch ihre Adern strömte. Ihre Lippen zitterten. Sie versuchte zu schreien, ruderte wild mit den Armen. Sie spürte seinen heißen Atem in ihrem Nacken. Natürlich wusste sie, dass sie kaum eine Chance hatte, dennoch nahm sie allen Mut zusammen, um sich aus der Umklammerung zu lösen. Ihre Augen weiteten sich. Sie riss instinktiv die Arme hoch, versuchte verzweifelt, ihre Finger zwischen seine Hände und ihre Haut zu bekommen, um den Druck gegen die Luftröhre zu verringern. Doch es gelang ihr nicht.


Noch einmal versuchte sie, alle Kräfte zu mobilisieren, die sie noch hatte, und trat ihrem Widersacher mit der Hacke so fest gegen das Schienbein, wie sie nur konnte. Es war mehr ein Reflex aus der Angst heraus, elendig zu ersticken. Er stieß einen unnatürlichen Schrei aus, taumelte einen Schritt zurück und zog Krystyna mit sich. Sie prallten gegen das Holzgeländer. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihren Körper. Für einen winzigen Moment ließ der Druck nach, doch sie kam nicht dazu, Luft zu holen. Er stieß sie wieder nach vorn, presste ihren Körper ans Holzgeländer und drückte mit noch größerer Kraft zu. Krystyna zitterte am ganzen Leib, versuchte zu schreien, doch mehr als ein Röcheln brachte sie nicht hervor. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er atmete schwer, den Blick starr nach vorn gerichtet. Ein letztes Mal bäumte sich ihr Körper auf, dann verlor sie das Bewusstsein. Sein Schatten, der noch einen Wimpernschlag lang über ihr lag, wich zur Seite, vermischte sich mit der Dunkelheit. Gleichzeitig kehrte Totenstille ein. 

Aus dem Inhalt:

Eine junge Frau wird tot im Harsefelder Klosterpark gefunden. Sie wurde erwürgt und ins Dickicht geworfen. Lange bleibt ihre Identität unklar. Erst durch einen anonymen Anruf erfährt die Kripo, dass es sich bei der Toten um Krystyna Janowska handelt – eine polnische Erntehelferin, die ganz in der Nähe des Tatorts auf einem Bauernhof arbeitete. Kaum haben Oberkommissarin Ilka Hansen und ihr Team mit den Ermittlungen begonnen, geschieht ein 2. Mord. Eine männliche Leiche wird mit einer klaffenden Wunde am Hinterkopf ans Elbufer gespült. Die Suche nach dem Täter führen Ilka, Cem und ihren neuen Kollegen Kai Lohmeyer immer weiter in ein undurchdringlich erscheinendes Labyrinth aus Korruption und Habgier.

Der Autor

Michael Romahn wurde 1959 in Stade geboren und lebt seit einigen Jahren mit seiner Familie in Harsefeld im Landkreis Stade. Er arbeitet als technischer Redakteur im Flugzeugbau, seine Liebe jedoch gilt der Schriftstellerei.

Mit dem vorliegenden Band erscheint sein erster Kriminalroman, der in seiner Heimat spielt. Zur Zeit arbeitet Romahn am zweiten Fall der Oberkommissarin Ilka Hansen.

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