Mörderische Geest
Michael Romahn
 

Leseprobe

Prolog

An einem Herbsttag vor 5 Jahren

Miriam Erdmann wurde unruhig. Seit einer Viertelstunde regnete es in Strömen. Normalerweise kannte sie die Landstraße in Richtung Harsefeld in- und auswendig. Doch an diesem Abend war alles anders. Die Bäume am Straßenrand verschwanden beinahe völlig hinter einem dichten Regenschleier. Das feuchte Laub bedeckte den nassen Asphalt, und der Regen klatschte so stark gegen die Frontscheibe, dass die Scheibenwischer nicht mehr dagegen ankamen. Sie kurbelte das Seitenfenster ein kleines Stück herunter, um ein wenig frische Luft zu schnappen, aber sie schloss es sofort wieder, weil der böige Wind den Regen ins Innere des Wagens trieb.

„Wir sollten das öfter machen“, sagte ihre Tochter Sabrina in das Schweigen hinein. „Ein Abend nur für uns.“
„Ja, das finde ich auch“, antwortete ihre Mutter, ohne den Blick von der Straße zu wenden. „Wir haben viel zu lange damit gewartet.“
„Hat sich Papa schon gemeldet?“
„Ja, er wird morgen früh in Hamburg landen.“

„Stört es dich nicht, dass er so selten zu Hause ist?“ Vor einer Woche war ihr Vater nach Kanada geflogen, um in Saskatchewan einige Betriebe zu besichtigen, die Futtererbsen anbauten. Es gehörte zu seinem Job, eine Art Kontaktpflege, wie er es nannte. Er hasste es, am Telefon oder per E-Mail mit Leuten zu kommunizieren, die er noch nie zuvor gesehen hatte.

„Ich habe mich daran gewöhnt“, antwortete Miriam. „In der Zeit, als wir uns kennen lernten, bin ich ihm manchmal hinterher geflogen, damit wir ein paar Stunden zusammen sein konnten. Später sind wir oft umgezogen, aber an keinem dieser Orte war ich jemals glücklich. Immer dann, wenn ich begann, mich heimisch zu fühlen, zogen wir auch schon wieder fort.“

„Und was passierte dann?“ wollte Sabrina wissen.
„Ich habe das ein halbes Jahr lang mitgemacht“, antwortete ihre Mutter, während die schwachen Scheinwerfer eines Autos vor ihr am Horizont auftauchten. „Aber dann habe ich deinen Vater vor die Wahl gestellt. Ich hatte einfach keine Lust mehr, ihm nachzureisen und unsere Treffen von seinem Terminkalender abhängig zu machen.“

„Wie hat Papa darauf reagiert?“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihrer Mutter. „Anfangs hat er sich noch geziert, aber dann fing er an, seine Termine so zu legen, dass wir länger an einem Ort bleiben konnten. Es war zwar immer noch nicht das perfekte Leben, wonach ich mich sehnte, aber es war immerhin ein Anfang.“
„Hättest du Papa wirklich verlassen, wenn er sich nicht darauf eingelassen hätte?“

Miriam zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber ich bin heute noch froh, dass ich diese Entscheidung damals nicht treffen musste.“
Sabrina lächelte. „Auf jeden Fall musst du sehr überzeugend gewesen sein, sonst hätte er nicht alles für dich aufgegeben.“
„Es hat schon eine Weile gedauert“, gab ihre Mutter zu. „Aber schließlich hat er es doch eingesehen.“

Miriam Erdmann warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und schüttelte verärgert den Kopf. „Wie nah will der Typ noch auffahren?“ Sie drosselte das Tempo, in der Hoffnung, dass das Fahrzeug hinter ihr ebenfalls langsamer werden würde. Doch es kam immer näher, und anscheinend dachte der Fahrer nicht daran, abzublenden.

„Verdammter Idiot!“, stieß sie hervor und stemmte sich gegen das Lenkrad. Sie presste die Lippen zusammen, als sie sah, dass der Fahrer den Blinker setzte und mit einer heftigen Lenkbewegung auf die linke Fahrbahn ausscherte.

Miriam wandte ihren Blick wieder nach vorn, zu der Kuppe, die geradewegs in den Himmel zu führen schien. Das Scheinwerferlicht des entgegen kommenden Autos verschwand kurz in einer Senke, und dann, wie aus dem Nichts, tauchte es so hell und gleißend wieder vor ihr auf, dass es in ihren Augen schmerzte. Sie drückte ihren Körper in den Fahrersitz und versuchte sich an der weißen, durchgezogenen Mittellinie der Straße zu orientieren, die bis zur Kuppe führte und irgendwo dahinter in der Dunkelheit zu enden schien.

„Mama, brems!“, schrie Sabrina, als sie erkannte, dass die beiden Fahrzeuge direkt aufeinander zufuhren. „Das schaffen die nie!“ In diesem Moment trat Sabrinas Mutter das Bremspedal voll durch. Instinktiv riss sie das Lenkrad herum. Sie spürte nur noch, wie das Heck ausbrach und auf dem glitschigen Laub herumwirbelte. Die Reifen quietschten, als das Auto auf die andere Straßenseite geschleudert wurde.

Im nächsten Augenblick folgte ein ohrenbetäubender Knall von zerreißendem Metall. Das letzte Geräusch, das Miriam Erdmann bewusst wahrnahm, war der spitze Schrei ihrer Tochter. Sie wurde nach vorn und dann vom auslösenden Airbag wieder zurückgeschleudert. Splitter der zerbrochenen Frontscheibe flogen durch die Luft, bevor eine unheimliche Stille eintrat. Danach bewegte sich nichts mehr. Weder Miriam noch ihre Tochter bekamen mit, dass die beiden Fahrzeuge den Unfall gerade noch vermieden hatten und in die entgegengesetzte Richtung davonfuhren, als wäre nichts gewesen.

Als Sabrina wieder zur Besinnung kam, war nur das leise Zischen des überhitzten Kühlers zu hören. Als sie die Augen öffnete, sah sie vor sich den Eichenstamm, der sich bis zur Hälfte in den Motorblock geschoben hatte. Rauch stieg auf, zog ins Innere des Wagens und schnürte ihr die Kehle zu. Es dauerte einige Sekunden, bevor sie begriff, was gerade geschehen war. Sie bekam kaum noch Luft.

Ich muss hier raus, schoss es ihr durch den Kopf, irgendwie. Schweiß brannte in ihren Augen. Sie wollte sich aufrappeln, doch die Beine versagten ihren Dienst. Von einer Sekunde auf die nächste spürte sie einen stechenden Schmerz, als würde ein Stromschlag durch ihren Körper jagen.

Ihr Kopf dröhnte. Sie musste sich übergeben. In ihrem Mund breitete sich ein säuerlicher Geschmack aus, dann erst entdeckte sie ihre Mutter. Sie saß immer noch hinter dem Steuer. Überall lag zersplittertes Glas, und es roch nach Benzin. Aus einer klaffenden Wunde an der Schläfe strömte Blut über das Gesicht ihrer Mutter. Tränen stiegen Sabrina in die Augen.

„Mama!“ schrie sie. „Mama, sag doch was!“ Sabrina strich über die blutverschmierte Wange ihrer Mutter. Doch Miriam Erdmann antwortete nicht.
Ihre Augen waren geschlossen, der Kopf seltsam zur Seite gedreht. Sie sah aus, als würde sie schlafen, wenn da nicht das viele Blut wäre, das in feinen Rinnsalen aus der Wunde über ihr Gesicht lief. Der Anblick ihrer Mutter brachte sie beinahe um den Verstand. Sabrina suchte nach ihrem Handy, fand es im Fußraum und griff danach.

„Scheiße“, fluchte sie. „Verdammte Scheiße!“ Mit zitternden Händen starrte sie auf das zerstörte Display. Sabrina warf das Handy weg, schaute sich verzweifelt um. Die Beifahrertür stand einen Spalt breit offen. Sabrina stieß sie auf. Ein kalter Windzug fegte ihr entgegen.

Sie versuchte sich zu konzentrieren, an nichts anderes zu denken, als in diesem Moment ihr Körpergewicht zu verlagern und aufzustehen. Doch die Beine gehorchten ihr nicht. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Es war nicht der Schmerz, der sie verzweifeln ließ, sondern das Gefühl der Hilflosigkeit. Dann wurde ihr schwarz vor Augen, als würde das Leben ganz langsam aus ihrem Körper weichen.

 

Kapitel 1

Samstag, 17. Oktober

Revierförster Kurt Brandner lenkte seinen Landrover über den Forstweg bis kurz vor den Eisenbahntunnel, der das Waldstück von einem Wohngebiet trennte. Der Dauerregen der letzten Tage hatte große Teile des Waldes in eine Seenlandschaft verwandelt. An diesem Samstagmorgen nieselte es nur leicht, aber das war ihm egal. Es war allemal besser, als den Holzverkauf zu organisieren oder neue Richtlinien der Europäischen Union zu studieren. Die Bürokraten machten ihm das Leben nicht gerade einfacher.

Hier draußen, in seinem Waldgebiet am Ortsrand von Harsefeld, fühlte er sich am wohlsten. Nachdem er gestern den ganzen Tag am Schreibtisch verbracht hatte, um den lästigen Papierkram zu erledigen, hatte er es sich herbeigesehnt, endlich wieder den frischen Duft des Waldes zu riechen. Er atmete tief durch. Der Anblick der tiefen Schlaglöcher erinnerte ihn daran, dass hier dringender Handlungsbedarf bestand, sonst war an einen Abtransport der Stämme nicht zu denken.

Er stieg aus, ließ seine Labradorhündin Cara hinaus und griff zum Fernglas. Er suchte routinemäßig das Waldstück ab. Die Hündin war mittlerweile im Unterholz verschwunden. Es war an der Zeit, einige Bäume zu markieren, die noch vor dem Winter gefällt werden mussten. Dieser Teil des Waldes bestand vorwiegend aus Buchen und Birken. Der letzte Sturm Anfang April hatte einige altersschwache Bäume einfach aus dem Erdreich gerissen.

Er machte sich auf den Weg, zog von Zeit zu Zeit die Sprühdose aus der Tasche und markierte die windschiefen Bäume, die den nächsten Sturm mit Sicherheit nicht überstehen würden. Obwohl die Bäume noch einige Jahre hätten wachsen können, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu fällen und das Holz zu verkaufen. In diesem Moment entdeckte er den Pick-up von Hannes und Willi, der sich langsam in Richtung Eisenbahntunnel bewegte. Die beiden arbeiteten schon seit Jahren für ihn und erledigten alle Forstarbeiten, die im Laufe des Jahres anfielen. An diesem Morgen mussten sie sich um eine knapp 30 Meter hohe altersschwache Buche kümmern. Normalerweise gehörte der Samstag nicht zu den Tagen, an denen sie Bäume fällten, aber aufgrund der Wettervorhersage, die Dauerregen und Sturmböen angekündigt hatte, entschied er, die Buche noch an diesem Wochenende zu fällen.

Hannes stieg als Erster aus und wedelte mit dem rot-weißen Flatterband in der Hand. „Moin, Kurt. Ich werde die Gegend erstmal absperren. Sicher ist sicher.“ Dann bequemte sich auch Willi aus dem Auto und erwies sich als gewohnt wortkarg. Er hob zur Begrüßung nur die Hand und schaute mit grimmigem Blick zum Himmel. Brandner musste immer schmunzeln, wenn er die beiden nebeneinander sah. Sie würden glatt als Pat und Patachon durchgehen, wobei Hannes der Größere und Willi der Dickere war. Ohne eine Antwort abzuwarten, begann Willi die beiden Kettensägen für den Einsatz vorzubereiten. Ihm war es lieber, für alle Fälle ein Ersatzgerät parat zu haben. Kurt Brandner fuhr in der Zwischenzeit seinen Landrover aus der Gefahrenzone und half Hannes, das Flatterband für die Absperrung anzubringen, die sie vorsichtshalber von der Eisenbahnunterführung bis zum Forstweg ausgeweitet hatten. Beim Fällen eines alten Baumes war ein Restrisiko nie ganz auszuschließen. Der Stamm hatte eine leichte Neigung zur Unterführung, was die Sache nicht unbedingt einfacher machte.

Aber Hannes und Willi waren erfahrene Forstarbeiter, die sich einen Stamm nur kurz anschauen mussten, um zu wissen, wie sie die Motorsäge anzusetzen hatten, damit der Baum in die gewünschte Richtung fiel. Brandner sah zu, wie Hannes mit der Motorsäge eine Fallkerbe in den Stamm sägte und die aus dem Boden ragenden Wurzeln kappte. Danach setzte er auf der gegenüberliegenden Seite der Fallkerbe einen waagerechten Schnitt an. Hannes reichte Willi die Motorsäge und schob das Visier seines Schutzhelms aus dem Gesicht. Anschließend trieb er mit einem Vorschlaghammer zwei Keile in die Schnittstelle und schlug sie abwechselnd Stück für Stück in den Stamm hinein. Dann war es so weit.
„Baum fällt!“, schrie Hannes, und im nächsten Moment fiel die Buche krachend zwischen den Kronen der angrenzenden Bäume hindurch zu Boden.

„Gute Arbeit, Hannes“, lobte Brandner. „Besser hätte er nicht fallen können.“ Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. „Fangt schon mal an, das Kronenholz abzusägen. Ich schaue mir mal die anderen Bäume an.“
Während die Motorsägen erneut aufheulten, machte sich Brandner wieder mit der Spraydose auf den Weg, um die nächsten Bäume zu markieren. Er sah seiner Hündin nach, die aufgeregt im Dickicht verschwand und setzte seine Arbeit fort. Er markierte gerade einen weiteren, altersschwachen Baum, als die Motorsägen plötzlich verstummten.

„Kurt!“, vernahm er Hannes‘ aufgeregte Stimme. „Komm mal … schnell!“ Brandner stieß einen schrillen Pfiff aus, worauf Cara im nächsten Augenblick aus dem Unterholz geschossen kam und an ihm vorbei zu Hannes und Willi lief. Als er wieder in Sichtweite seiner Angestellten kam, fragte er leicht ungehalten: „Was ist los? Warum macht ihr nicht weiter?“ Hannes deutete auf die Wildschweinsuhle vor ihm, die zum größten Teil noch mit dem Kronenholz des gefällten Baumes bedeckt war. Die Labradorhündin verschwand darin, tauchte einige Sekunden später mit einem dünnen Knochen im Maul wieder auf und ließ den Fund direkt vor Brandners Füßen fallen.

„Hoffentlich ist es nicht das, was ich befürchte“, sagte Hannes, während Willi einfach nur dastand und den Mund nicht mehr zubekam.
Brandner trat ein Stück näher und starrte auf die Suhle. Sein Herz pochte wie verrückt, als er auf die Knochen hinabschaute, die verstreut in der Wildschweinsuhle herum lagen. Mit einem Mal beschlich ihn das beklemmende Gefühl, dass es sich nicht um ein Tier handeln konnte, dessen Überreste vor ihm in der Suhle lagen. Als die Hündin erneut in der Wildschweinsuhle scharren wollte, packte Brandner sie am Halsband und leinte sie an. Es gab für alles eine Erklärung, dachte Brandner. Vielleicht hatten sie sich auch nur getäuscht und es waren doch nur die Knochen eines Tieres, die denen des Menschen ähnlich sahen.

Leichte Schwindelgefühle überkamen ihn. Er trat einige Schritte zurück, setzte sich auf einen Baumstamm und wandte dem Ort des Grauens den Rücken zu. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte schon einige Skelette gesehen, von verendetem Wild, die über Monate oder sogar Jahre unentdeckt irgendwo im Dickicht lagen, aber das hier war etwas anderes. Ein menschliches Skelett war ihm noch nie begegnet. Wenn er daran dachte, wie sich die Tiere über die Leiche hergemacht hatten, dann … nein, lieber nicht daran denken.
„Wir müssen die Polizei rufen“, sagte Brandner und kratzte sich am Hinterkopf. „Bis dahin können wir hier nicht weitermachen.“ Dann griff er nach seinem Handy und wählte mit zitternden Fingern die Nummer der Polizei.

 

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