Die Chemie stimmt
Peter Eckmann
Leseprobe
Kapitel 1: Der Totenschädel auf der Baustelle
Donnerstag, der 15. Juni 1972. Seit vier Wochen laufen die Arbeiten auf dem Gelände der künftigen Methocel Anlage. Es handelt sich um eine kleine Nebenbaustelle der Dow Chemical Deutschland auf dem Bützflethersand – in der Nähe der Schwinge auf dem Gelände der ehemaligen Ziegelei Stechmann. Deshalb wird dieses kleine Werk später auch Schwingewerk genannt. Der hier störende Wasserlauf, der sogenannte Kruken, ein einem Priel ähnlicher Wasserlauf, der sich durch einen Teil des Bützflethersandes zieht, ist vor zwei Wochen zugeschüttet und planiert worden. Ein kleiner Teil des Schwingewerkes ragt laut Plan über einen Teil des jetzt zugefüllten Kruken hinaus.
Es ist sehr früh, seit sechs Uhr sind etwa zwanzig Arbeiter auf der Baustelle. Sie arbeiten am Fundament für eines der größten Fabriken in der Welt für Methylcellulose. Es wird ein schöner Tag werden, die Sonnenstrahlen haben eben die letzten Reste des morgendlichen Nebels aufgelöst. An der nordöstlichen Ecke fährt gerade die Ramme einer schwedischen Firma auf, sie soll in den nächsten zwei Wochen etwa einhundert Pfähle in den weichen Boden rammen, damit die Fabrik auf festem Fundament stehen kann.
In diesem Moment fährt der Bauleitungsinspektor mit seinem Auto auf die Baustelle, er steigt aus und schreitet mit einer großen Zeichnung in der Hand die Baustelle ab. Am südwestlichen Ende der mit Sand aufgefüllten Fläche bleibt er eine Weile stehen, geht hin und her und blickt immer wieder auf seinen Plan. Er blickt sich um, das scheint ein Fall für den Vorarbeiter zu sein. „Alfred!“, ruft er laut, um die Planierraupen zu übertönen, „Alfred, komm mal her!“ Er untermalt die Wichtigkeit der Angelegenheit mit einer weitausholenden Bewegung seines Armes.
Alfred Reinecke, der Vorarbeiter, löst sich aus der Gruppe der Männer, denen er gerade die Arbeit zuteilt. „Was ist los, Hans-Adolf? Warum brüllst du hier so rum?“
„Muss ich ja, wenn ihr mich hören sollt. Hör mal, ihr müsst ab und zu auch mal auf euren Plan gucken. Was ist denn mit der Feuerlöschleitung? Der Graben dafür hätte schon längst ausgeschachtet werden müssen.“
„Scheiße.“
„Da sagst du was. Ich fürchte, da habt ihr noch etwas zum Nachbessern.“
Eine halbe Stunde später läuft Vorarbeiter Reinecke mit Maßband durch die Anlage, zwei Mitarbeiter trotten mit Markierungsstäben hinterher. Zwei Stunden später ist der Graben für die Feuerlöschleitung ausgemessen und gekennzeichnet. „So, nun seht zu, dass ihr das jetzt ausschachtet. Die paar Meter habt ihr doch schnell geschafft!“
Es muss nur ein kleines Stück mit der Hand ausgehoben werden, der größere Teil wird morgen mit dem Bagger erledigt. Drei Männer stehen nebeneinander in dem kurzen Graben und schwingen ihre Schaufeln. Trotz der frühen Stunde ist es schon warm, es wird heute wieder heiß werden. Der Schweiß beginnt zu fließen.
„Verdammt, hier ist ein Stein!“ Arbeiter Friedrich Meister kratzt mit der Schaufel den Sand fort, um den vermeintlichen Stein frei zu legen. Doch dann kommt es ihm nicht mehr wie ein Stein vor, er bückt sich, um den Fund in Augenschein zu nehmen. „Verdammt, Kinnings, das ist ein Schädel!“
„Was?“ Die Kollegen kommen zu seinem Teil des Grabens, Friedrich Meister springt wie von der Tarantel gestochen aus der Grube und läuft zur Baubude, zu seinem Vorarbeiter.
Alfred Reinecke sieht von einer Liste auf. „Was gibt’s, Fiete? Bist du auf Gold gestoßen?“ Er mustert seinen Mitarbeiter. „Wie siehst du denn aus? Du bist ja ganz blass!“
Jetzt findet Friedrich seine Sprache wieder. „Du musst mal gucken, Alfred. Ich glaube, ich habe einen Totenschädel gefunden.“
„Du hast was?“ Die Stimme von Vorarbeiter Reinecke überschlägt sich fast. „Damit macht man keine Witze!“
Friedrich Meister nickt lautlos, dann krächzt er: „Nein, ganz im Ernst, ich bin eben beim Buddeln auf einen menschlichen Schädel gestoßen. Du musst kommen und dir das angucken!“
Alfred läuft hastig seinem Arbeiter hinterher. Wenn das mit dem Schädel stimmt, gibt es sicher eine Verzögerung von ein paar Tagen. In seinem Kopf schiebt er bereits Termine hin und her, um den knappen Zeitplan noch einhalten zu können.
Friedrich springt in den Graben, bückt sich und weist auf den Fund unten im Sand. „Hier bitte, sieh selbst!“
Alfred Reinecke sieht auf den Schädel. „Scheiße Friedrich, du hast Recht.“
„Glaubst du, ich bin blöde? Ich bin auch mal zur Schule gegangen.“
Alfred sieht sich um und kratzt sich nachdenklich am Kopf. „Wir müssen zuerst die Stelle markieren, hier darf nicht weitergearbeitet werden. Steckt ein paar Stäbe in den Sand, Moniereisen oder so etwas, und verbindet sie mit dem weiß-roten Flatterband, ich werde die Polizei benachrichtigen.“
„Guten Tag, Herr Ebert. Ich wollte ihnen die bislang vorliegenden Erkenntnisse der Untersuchung des Skelettes mitteilen.“
„Legen Sie los, Doktor, ich bin bereit, mitzuschreiben.“
„Also, dann: Wir haben das komplette Skelett gefunden, nur der Kopf ragte in den Graben für diese Feuerlöschleitung hinein. Nur dreißig Zentimeter weiter, und die Leiche wäre nie entdeckt worden. Gut, jetzt zu den Einzelheiten. Der Tote war männlich, man kann das am fehlenden Geburtskanal im Becken erkennen. Er war normal groß, etwa 1,75 Meter, plus/minus fünf Zentimeter. Genauer geht es jetzt nicht mehr.“
Kommissar Ebert nickt, was sein Gesprächspartner natürlich nicht sehen kann. „Sehr gut, das hilft uns bestimmt weiter.“
„Weniger genau ist das Todesalter zu bestimmen. An dem Zustand der Knochen und den Resten der Haut und der Sehnen würde ich meinen, dass er etwa drei Jahre tot ist, plus/minus etwa ein Jahr. Ich habe Kontakt mit der Rechtsmedizin vom Eppendorfer Klinikum aufgenommen und hoffe, dass die Kollegen es noch genauer beurteilen können. Was noch? Ja, der Mann war zum Zeitpunkt des Todes etwa 45-50 Jahre alt. Die Form des Loches im Schädel lässt auf einen Hieb mit einer Axt schließen. Vielleicht war es auch ein Spaten. Das Gebiss ist noch gut erhalten. Wir sollten Verbindung mit den Zahnärzten in der Umgebung aufnehmen.“
„Das würde uns sicher weiterhelfen. Ich werde schon mal die alten Vermisstenanzeigen durchsehen, mal sehen, was sich aus der Zeit finden lässt.“
„Der Tote ist mit ziemlicher Sicherheit in einem Sack zum Fundort gebracht worden, es sind Reste von Fasern in der Umgebung der Leiche gefunden worden. Dazu noch ein paar Ziegelsteine, die dienten wohl zur Beschwerung. Das ist aber nur eine Vermutung, diese Ziegel findet man dort überall. Darüber können die Kollegen von der Spurensicherung wahrscheinlich mehr sagen.“
„Vielen Dank, Doktor. Sie waren uns wieder einmal eine große Hilfe.“
Am folgenden Wochenende ist ein Besuch des Oberkommissars Hansen bei seinem früheren Kollegen, Jürgen Krüsmann, vorgesehen. Genau genommen hat Werner Hansen sich bei „den Krüsmanns“, wie er immer sagt, fast selbst eingeladen. Er hat seinen alten Chef angerufen und das Gespräch, unauffällig, wie er meinte, auf seinen neuen Fall gebracht. Wie zu erwarten, war der alte Kriminalbeamte neugierig geworden und hatte die kleine Familie eingeladen. Die Aktion erfordert einige Planung. Seine Frau Gabriele soll mitfahren, ebenso ihr erstes Kind, Christian. Ein zweites Kind ist unterwegs, man sieht es seiner rothaarigen Frau schon an, sie ist im sechsten Monat schwanger.
Jürgen Krüsmann und seine Lebensgefährtin Anna von Rönn freuen sich sehr über den Besuch. Der Junge wird geherzt, er ist ein süßer Knirps von drei Jahren, mit rotblonden Haaren.
„Soll das nächste Kind wieder ein Junge werden?“, fragt Anna von Rönn.
„Wenn er so lieb sein wird wie sein Bruder, ist mir das egal“, erklärt die junge Mutter. „Obwohl, ein kleines Mädchen wäre mir auch recht. Werner ist das sowieso egal – sagt er jedenfalls“, fügt sie noch lächelnd hinzu.
Werner sitzt bei seinem alten Kollegen in dessen Arbeitszimmer, die Frauen haben es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht, der kleine Christian spielt mit einem Blechauto auf dem Teppich.
„Wie fühlst du dich?“, fragt die Ältere, „ist alles in Ordnung mit dem Baby?“
Gabi Hansen lächelt. „Ja, der Doktor sagt, es ist alles bestens.“ Die junge Frau blickt versonnen zu ihrem Sohn hinüber. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich so ein normales Leben führen kann.“
Anna weiß, worauf Gabi anspielt. Sie war in ihrer Jugend, bevor sie Werner Hansen kennengelernt hatte, auf dem Kiez in Sankt Pauli gestrandet und nur unter großer Mühe dieser Welt entkommen. Anna schüttelt sachte den Kopf. „Das ist das Leben, das schon immer für dich vorgesehen war, sonst hättest du nicht so eine Freude daran. Wo wir gerade von Freude sprechen: Wollen wir nicht nächste Woche mit Christian zu Hagenbeck fahren? Einen schönen Tag verbringen? Was meinst du?“
Christian bekommt das mit und springt auf: „Ja! Hagenbeck! Ich will zu den Elefanten!“ Die beiden Frauen freuen sich wegen seines Eifers.
Im Arbeitszimmer haben sich Kommissar a. D. Krüsmann und Kommissar Hansen einen Cognac eingeschenkt, der alte Herr holt eine Pfeife aus einem Schubfach und fängt an, sie bedächtig zu stopfen.
„Du rauchst Pfeife? Seit wann das denn?“
Jürgen Krüsmann lacht. „Ich hab‘ schon Pfeife geraucht, da bist du noch zur Schule gegangen, mein Lieber! Ich habe im Krieg damit angefangen, hab‘ es bei einem Kameraden gesehen und fand es irgendwie so gemütlich. Man ist aber während des Krieges und auch danach kaum an guten Tabak gekommen und da bin ich irgendwie an den Zigaretten hängen geblieben. Inzwischen kann man aber wirklich guten Tabak kaufen und diese Pfeife“, er hält sie in das Licht, damit sein Freund sie ausgiebig bewundern kann, „hat Anna mir zu Weihnachten geschenkt. Ein Schmuckstück, oder?“
Werner versteht nichts von den Feinheiten einer guten Pfeife, aber sie sieht sehr edel aus. „Bildschön“, sagt er höflich. Wohlriechender Rauch steigt aus dem Pfeifenkopf auf. „Hast du dich inzwischen an den Ruhestand gewöhnt?“, fragt er dann.
Jürgen Krüsmann lacht. „Ich habe keine Langeweile, falls du darauf anspielen solltest. Ich freue mich aber immer über die Berichte aus deinem Polizeialltag. Du hast doch sicher auch jetzt etwas auf dem Herzen, oder?“ Er lächelt seinen jungen Kollegen aufmunternd an.
Seinem alten Chef kann er nichts vormachen. „Ich habe tatsächlich eine Frage zu meinem neuen Fall und ich bin sicher, dass du mir weiterhelfen kannst, denn der eigentliche Vorgang reicht in eine Zeit zurück, in der Du noch im Dienst warst, ich war dagegen wahrscheinlich noch in Hannover auf der Schule.“
Ex-Hauptkommissar Krüsmann lehnt sich entspannt zurück und lauscht konzentriert der Beschreibung seines Nachfolgers. Er lässt das Gehörte noch einen Moment sacken. „Du hast doch bestimmt schon alle Vermisstenfälle durchgesehen, oder?“
„Ja, ich habe 1964 angefangen, bis 1970, um ganz sicher zu gehen.“
„Und, war etwas dabei?“
„Es gibt noch ein paar ungeklärte Fälle, zweimal ein vermisstes Mädchen und ein vermisster Landwirt aus Bützfleth. Die Mädchen fallen durch das Raster, der Landwirt wurde nach deiner Zeit als vermisst gemeldet. Er passt vom Alter und der Größe zu dem gefundenen Skelett, wir glauben deshalb, dass er der Tote ist.“
„Wie heißt er denn, vielleicht fällt mir ja etwas ein?“
„Es sollte ein Obstbauer mit Namen Hermann Gerken sein. Sagt dir das etwas?“
Herr Krüsmann runzelt die Stirn. „Ja, ich erinnere mich, der wurde seit Juni 1969 vermisst. Das ist allerdings mehr deine Zeit.“
„Richtig, das stimmt. Ich erinnere mich nur leider kaum noch, und hoffe nun auf einige Eingebungen von dir.“
Kommissar Krüsmann holt aus: „Hermann Gerken war damals sehr unbeliebt bei seinen Nachbarn auf dem Bützflethersand, er ist überheblich und aufbrausend zu ihnen gewesen, damit hat er sich keine Freunde gemacht. Er hatte einen gut gehenden Obsthof und wäre durch den Verkauf seiner Ländereien an die Dow Chemical noch reicher geworden. Nur ist damals, als er verschwand, kein Tötungsdelikt erkannt worden, es wurde ja auch keine Leiche gefunden.“
„Gut, Jürgen, ich werde gleich Anfang der Woche in dem Umfeld anfangen. Du hast immer einen sechsten Sinn für solche Dinge gehabt, vielleicht muss ich dich noch ein paar Mal um Rat fragen.“
„Nur zu, du weißt, dass ich dir gerne helfe.“
„Was macht eigentlich dein Bein?“
„Das wird natürlich nicht besser. Da ich jetzt jedoch mehr Gelegenheit habe, mich auszuruhen, auch dank Annas Hilfe, wird es zu mindestens nicht schlimmer.“